Umsatzsteuer Newsletter 50/2023
EuGH: Verwaltungsräte sind auch bei variabler Vergütung keine Unternehmer
Aufsichtsräte mit festen Vergütungen sind keine Unternehmer. Die Frage, ob Aufsichtsräte mit variablen Vergütungen stets Unternehmer sind, ließ die Rechtsprechung bisher offen. Die Finanzverwaltung hat bis jetzt einen Mittelweg gewählt und ihre Verfahrensweise im Sinne der Praxis stark vereinfacht: Sie bejahte grundsätzlich die Unternehmereigenschaft bei einem variablen Anteil der Gesamtvergütung von mehr als 10 %. Dieses Prinzip scheint nach der neuesten Entscheidung des EuGH überholt zu sein. Denn er lehnt die Unternehmerstellung eines Verwaltungsratsmitglieds allein aufgrund der Zahlung einer variablen Vergütung ab.
1 Hintergrund
Der EuGH stufte in der Rs. IO (KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 29 ǀ 2019) die Tätigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds einer Stiftung bei fester Vergütung als unselbständig und damit nichtumsatzsteuerbar ein. Der BFH änderte daraufhin seine Rechtsprechung hinsichtlich Aufsichtsräten mit fester Vergütung entsprechend (KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 06 ǀ 2020). Auch die Finanzverwaltung änderte ihre Auffassung. Nach Abschn. 2.2 Abs. 3a UStAE sind nur noch Aufsichtsräte mit einem variablen Anteil ab 10 % der Gesamtvergütung selbständig tätig und können als Unternehmer angesehen werden. (KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 26 ǀ 2021 und 14 ǀ 2022). Zur Frage, ob bei einer variablen Vergütung anders zu entscheiden wäre, hatte sich der EuGH damals aber nicht geäußert. Dafür nimmt er jetzt in seinem Urteil v. 21.12.2023 – C-288/22 – TP zu Verwaltungsräten Stellung. Sein Standpunkt gilt entsprechend auch für Aufsichtsräte. 
 
2 Sachverhalt
Rechtsanwalt TP ist Mitglied des Verwaltungsrats von vier luxemburgischen Aktiengesellschaften mit einer Mandatszeit von bis zu sechs Jahren. Es besteht kein Arbeitsvertrag. Der Verwaltungsrat ist ein Pflichtorgan und entscheidet über die Rechnungslegung, die Risikopolitik und die von der jeweiligen Gruppe zu verfolgende Strategie. Ferner arbeitet der Verwaltungsrat Vorschläge für die Aktionärsversammlungen aus. Die tägliche Geschäftsführung übernimmt bei zwei Gesellschaften ein Geschäftsführungsausschuss. In den anderen beiden Gesellschaften gibt es keine Tätigkeit, die eines Geschäftsführungsausschusses bedürfte. Die Entscheidungen der Gesellschaften setzen meist ihre Angestellten und nicht einzelne Verwaltungsratsmitglieder um. Laut Gesetz gehen Verwaltungsratsmitglieder keine persönlichen Verpflichtungen in Bezug auf Verbindlichkeiten der Gesellschaft ein. Die Vergütung von TP beschließt die Hauptversammlung der Aktionäre auf Vorschlag des Verwaltungsrats. Die Vergütung besteht entweder aus einer Festvergütung oder einer Tantieme, die vom Erfolg der Aktiengesellschaften abhängt. TP stuft seine Verwaltungsratstätigkeit als nichtselbständig ein, während das Finanzamt die Selbständigkeit und damit die Umsatzsteuerpflicht bejahte.
 
3 Entscheidungsgründe
Wie der EuGH herausstellt, hat das nationale Gericht hinsichtlich der Selbständigkeit zu prüfen, ob die Person ihre Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und unter eigener Verantwortung ausführt und ob sie das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten verbundene wirtschaftliche Risiko trägt. Bei der Prüfung sind insbesondere die nationalen Rechtsvorschriften zu berücksichtigen, welche die Verantwortlichkeiten und die Haftung der Beteiligten regeln. TP berät die Gesellschaft und nimmt an Abstimmungen teil, haftet jedoch grundsätzlich nicht persönlich für Verpflichtungen der Gesellschaft. Daher trägt die Gesellschaft und nicht TP mögliche negative Folgen der Entscheidungen des Verwaltungsrats und somit das wirtschaftliche Risiko der Tätigkeit des TP. TP übernimmt auch mit der Tantieme, die von den erwirtschafteten Gewinnen abhängt, kein eigenes Gewinn- und Verlustrisiko. Denn TP partizipiert wie ein Aktionär nur am Erfolg der Gesellschaft und deren wirtschaftlichem Risiko, da die Tantieme im schlimmsten Fall nur EUR 0 betragen kann und keinen Verlust der Gesellschaft umfasst. 
 
4 Praxisfolgen
Die Finanzverwaltung hat die Frage der Selbständigkeit von Aufsichtsräten bisher sehr vereinfachend behandelt. Man orientierte sich an einer 10 %-Grenze: Sobald der Anteil der variablen Vergütung mindestens 10 % an der Gesamtvergütung beträgt, gilt der Aufsichtsrat als selbständig und damit als „Unternehmer“ im Sinne des Umsatzsteuerrechts. Durch die Aufnahme von variablen Vergütungsbestandteilen war dieser Status sehr schnell erreicht. Denn bereits die Vergütung nach der Anzahl der Sitzungen galt als „variable“ Vergütung (vgl. Abschn. 2.2 Abs. 3a Satz 4 UStAE), frei nach dem Motto: Wer länger sitzt, ist schneller Unternehmer. Für manch einen Aufsichtsrat erwies sich das als vorteilhaft, denn als Unternehmer kam er in den Genuss des Vorsteuerabzugs. Die neue EuGH-Entscheidung zeigt jedoch auf, dass eine variable Vergütung allein nicht zu einem wirtschaftlichen Risiko des Verwaltungsrats oder Aufsichtsratsmitglieds führt. Vielmehr muss das Mitglied auch das Verlustrisiko der Gesellschaft aufgrund seiner Entscheidungen mittragen, wobei eine rein deliktische Haftung nicht genügt. Hierfür sind die nationalen Vorschriften auszuwerten. Die EuGH-Entscheidung bezieht sich auf luxemburgisches Gesellschaftsrecht. Dennoch kann man die vom EuGH festgestellten Grundsätze auf das deutsche Recht übertragen. Die Finanzverwaltung wird nun wohl oder übel den UStAE nochmals überarbeiten müssen. Es werden sich weitere Fragen ergeben, die von den Behörden auch in den Blick zu nehmen sind. Denn mit der umsatzsteuerlichen Einordnung ist noch nichts zur lohnsteuerrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung gesagt. Die Wirtschaft erwartet an dieser Stelle zu Recht Vorgaben, die dem Praktiker eine klare Richtschnur im Sinne der Einheit der Rechtsordnung liefern. 
 
Der EuGH äußert sich nicht zu der Frage, ob die Nebentätigkeit im Verwaltungsrat durch die umsatzsteuerpflichtige Haupttätigkeit als Rechtsanwalt infiziert wird. Eine solche Infektion bei zwei voneinander unabhängigen Tätigkeiten lehnte die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen jedoch zu Recht ab. Nach dem EuGH kann die Haupttätigkeit die Nebentätigkeit bei einem engen Zusammenhang der Tätigkeiten nur unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit bei gelegentlicher Tätigkeit infizieren. Die Nichterwähnung des EuGH im vorliegenden Fall ist ein Zeichen dafür, dass er diese Position teilt.
 
Ansprechpartner:
 
 
Prof. Dr. Thomas Küffner
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht,
Steuerberater, Wirtschaftsprüfer
Tel.: +49 89 217501230
 
Stand: 22.12.2023