Umsatzsteuer Newsletter 34/2024
Im Fokus: Aktuelle Entscheidungen zum Prozess- und Verfahrensrecht
„Recht haben und Recht bekommen sind zwei Paar Schuhe“. So hängt der Erfolg von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen maßgeblich nicht nur vom materiellen Recht ab. Entscheidende Bedeutung kommt auch dem Verfahrens- und Prozessrecht zu. Folgende aktuelle Entscheidungen könnten dabei von Bedeutung sein: 6 % AdV-Zinsen verfassungswidrig? – Vorlage des BFH an das BVerfG | Videoverhandlungen und Live-Übertragungen – Verfahrensneuerungen vor EuGH und EuG | Keine verjährungsunterbrechende Wirkung der Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeanordnung eines Steuerfahnders | Fortwirkung des Verzichts auf die mündliche Verhandlung
1 Höhe der Aussetzungszinsen verfassungswidrig? Vorlage des BFH an das BVerfG
Sind die Zinsen auf Steuerbeträge, für die Aussetzung der Vollziehung gewährt ist, i. H. v. 6 % pro Jahr verfassungswidrig? Das will der BFH nun vom BVerfG wissen. Der Gesetzgeber hatte die Höhe des Zinssatzes nach §§ 233a, 238 AO für Zeiträume ab 01.01.2019 auf 1,8 % p. a. gesenkt. Dies geschah als Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG im Jahr 2021, in der es die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit 6 % p. a. für verfassungswidrig erklärt hat (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 29 | 2021). Für Aussetzungszinsen (und weitere Zinstatbestände) gilt dagegen weiterhin ein Zinssatz von 6 % p. a. Daran äußerte zuletzt das FG München mit Beschluss vom 24.06.2024 (Az. 7 V 11/24) ernsthafte verfassungsrechtliche Zweifel und gewährte AdV. Mit Beschluss vom 08.05.2024 legt der BFH nunmehr dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vor, ob die Höhe der AdV-Zinsen von 6 % p. a. seit dem 01.01.2019 bis zum 15.04.2021 mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Az. VIII R 9/23). Das BVerfG hatte in seiner Entscheidung im Jahr 2021 zu anderen Verzinsungstatbeständen (Stundungs-, Hinterziehungs-, AdV-Zinsen) nicht ausdrücklich entschieden. Steuerpflichtige sowie ihre Berater sollten Einspruch gegen die Festsetzung von AdV-Zinsen einlegen, um diese offenzuhalten und von einer ggf. positiven Entscheidung des BVerfG zu profitieren. Zugleich kann eine (zinslose) AdV der AdV-Zinsen erwogen werden.
 
2 Videoverhandlung und weitere Neuerungen des Verfahrens vor EuGH und EuG
Über den teilweisen Zuständigkeitswechsel vom EuGH auf das EuG hatten wir bereits berichtet (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 33 | 2024). Ergänzend dazu haben der EuGH und das EuG auch Änderungen ihrer Verfahrensordnungen beschlossen. Vor dem EuGH/EuG können die Parteien künftig auch per Videokonferenz verhandeln. Dazu müssen sie jedoch darlegen, aus welchen Gesundheits-, Sicherheits- oder anderen triftigen Gründen (z. B. Flugannullierung) sie an einer Teilnahme in Präsenz verhindert sind. Eine weitere Neuerung ist, dass EuGH und EuG entscheiden können, öffentliche Sitzungen live zu übertragen. Bisher konnten bereits die Urteilsverkündung, die Verlesung von Schlussanträgen sowie Verhandlungen der Großen Kammer des EuGH live verfolgt werden. Dies wurde nun in den Verfahrensordnungen verankert, so dass Live-Übertragungen künftig auch bei weiteren Verhandlungen vor EuG und EuGH möglich sind. Zudem sollen die Videoaufzeichnungen nach der Verhandlung bis zu einem Monat auf der Website des Gerichtshofs der EU zur Verfügung stehen. Damit erhalten Unionsbürger und vorlegende Gerichte die Möglichkeit, öffentliche Sitzungen des EuGH/EuG aus der Ferne mitzuverfolgen. Die Verfahrensbeteiligten können sich unter Darlegung von Gründen jedoch gegen die Übertragung und Veröffentlichung der Verhandlung wehren.
 
3 Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeanordnung durch einen Steuerfahnder unterbricht nicht die Verjährung
Durchsuchungen und Beschlagnahmen können durch verschiedene Personen angeordnet werden. Grundsätzlich liegt die Anordnungsbefugnis beim Richter. Bei Gefahr in Verzug dürfen Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnungen auch durch die Staatsanwaltschaft bzw. die BuStra/StraBu und deren Ermittlungspersonen, d. h. Polizeibeamte und Steuer- bzw. Zollfahnder ergehen. Nicht jede dieser Anordnungen kann jedoch auch die Verfolgungs- und Festsetzungsverjährung unterbrechen. Bei Ordnungswidrigkeiten gibt es die Besonderheit, dass neben der Anordnung durch einen Richter auch eine Anordnung der Verfolgungsbehörde (Staatsanwaltschaft oder BuStra) verjährungsunterbrechende Wirkung hat (§ 33 Abs. 1 Nr. 4 OWiG). Nun äußerte sich der BFH erstmalig dazu, ob auch Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnungen von Ermittlungspersonen wie Steuerfahndern die Verjährung unterbrechen können (Urt. v. 31.01.2024 – X R 7/22). Der BFH verneinte dies. Steuerfahnder werden nicht in dem Sinne für die Verfolgungsbehörde tätig. Ferner betonte der BFH, dass ein Durchsuchungsbeschluss für die verjährungsunterbrechende Wirkung zwingend inhaltliche Mindestanforderungen erfüllen muss. Diese Frage konnte im Steuerfestsetzungsverfahren nicht mehr geklärt werden, da die Akten des Ermittlungsverfahrens (inkl. Durchsuchungsbeschluss) schon vernichtet worden waren. Steuerpflichtige sollten genauestens prüfen, ob eine Strafverfolgung oder Änderung der Steuerbescheide nicht bereits wegen Verjährung ausgeschlossen ist. Der vorliegende Fall zeigt schön, dass sich nicht jede Ermittlungsmaßnahme zur Unterbrechung der Verjährung eignet.
 
4 Fortwirkung der Erklärung zum Verzicht auf mündliche Verhandlung
Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht seine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen (§ 90 Abs. 2 FGO). Wie lange ein einmal erklärtes Einverständnis fortgilt, hatte der BFH jüngst zu klären (Az. IX S 16/24). Der Kläger hatte im Wege der Anhörungsrüge nach § 133a FGO geltend gemacht, der BFH habe seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, da das Gericht ohne mündliche Verhandlung über die Revision entschieden hatte. In einem früheren Verfahrensstadium hatte der Kläger sein Einverständnis hierzu erklärt. Zwischenzeitlich war das Verfahren aufgrund eines anderen Verfahrens vor dem BVerfG ausgesetzt. Aus Sicht des BFH wirkt der einmal erklärte Verzicht auf die mündliche Verhandlung grds. fort. Er wird nicht durch Ablauf eines erheblichen Zeitraums, z. B. durch die im Zivilverfahren geltende Drei-Monats-Frist, wirkungslos. Der Verzicht „verbrauche“ sich lediglich dann, wenn das Gericht z. B. einen Beweisbeschluss oder Aufklärungsanordnungen erlässt. Damit signalisiere das Gericht, dass es eine Entscheidung basierend auf dem bisherigen Sachstand, angesichts dessen der Verzicht ursprünglich erklärt wurde, nicht mehr für ausreichend legitimiert hält. Nur dann müsse eine erneute Möglichkeit zur mündlichen Verhandlung bestehen. Steuerpflichtige sollten sich einen Verzicht auf die mündliche Verhandlung genau überlegen und abwägen. Denn hiermit verzichten sie auch auf die Möglichkeit, ihre Argumente vor Gericht mündlich zu erläutern bzw. vor dem FG weitere Beweise einzubringen.
 
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Dr. Thomas Streit, LL.M. Eur.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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Stand: 09.09.2024