1 Hintergrund
Die Rechtsprechung des EuGH spielt eine zentrale Rolle in den Bereichen des Umsatzsteuer-, Zoll- und Verbrauchsteuerrechts. Diese Rechtsgebiete werden durch Vorgaben des EU-Rechts bestimmt. Damit das EU-Recht in den Mitgliedstaaten einheitlich angewendet wird, entscheidet der EuGH über dessen Anwendung und Auslegung. Die nationalen Gerichte sind an die Rechtsauslegung des EuGH gebunden. Bestehen Zweifel an der Gültigkeit oder Auslegung des EU-Rechts, können sich nationale Gerichte im Rahmen sog. Vorabentscheidungsersuchen gem. Art. 267 AEUV an den EuGH wenden. Teilweise sind Gerichte sogar dazu verpflichtet. Kläger und Beklagter haben lediglich die Möglichkeit, beim nationalen Gericht eine Vorlage anzuregen. Bislang war es Aufgabe des EuGH, über entsprechende Ersuchen zu entscheiden. Neben dem EuGH gibt es auf EU-Ebene auch das sog. Gericht (EuG). Dieses war bisher überwiegend mit Nichtigkeitsklagen, d. h. Klagen gegen Rechtsakte der EU-Organe, und mit Beamtenrechtsstreitigkeiten befasst. Eine bedeutende Änderung der Satzung des Gerichtshofs der EU bewirkt nun eine Neuverteilung der Zuständigkeiten. Die neuen Regelungen wurden am 12.08.2024 im Amtsblatt veröffentlicht und treten zum 01.09.2024 in Kraft.
2 Zuständigkeitsübertragung von Vorabentscheidungsverfahren auf das EuG
Künftig soll das EuG für Vorabentscheidungsverfahren in besonderen Sachgebieten zuständig sein. Dazu zählen u. a. das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, die Verbrauchsteuern, der Zollkodex und die zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur. Man hat sich bei der Reform v. a. deshalb für diese Rechtsgebiete entschieden, da sie vermeintlich selten Grundsatzfragen aufwerfen, die die Einheit oder die Kohärenz des EU-Rechts berühren. Zudem gebe es hier bereits umfangreiche Rechtsprechung des EuGH, auf die das EuG zurückgreifen könne. Die Reform soll letztlich zu einer Entlastung des EuGH führen, damit dieser sich stärker auf seine Aufgaben als Verfassungs- und Höchstgericht der EU konzentrieren kann. Die Zuständigkeitsübertragung betrifft Vorabentscheidungsersuchen, die ab dem 01.10.2024 vorgelegt werden. Weiterhin beim EuGH verbleiben Ersuchen, die nicht ausschließlich diesen Sachbereichen zugeordnet werden können. Ferner soll der EuGH – auch wenn die o. g. Sachbereiche betroffen sind – weiterhin Ersuchen bearbeiten, die „eigenständige Fragen der Auslegung des Primärrechts, des Völkerrechts, der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts oder der Grundrechtecharta aufwerfen“. Damit er selbständig überprüfen kann, ob er nach diesen Maßstäben auch künftig zuständig ist, legen die nationalen Gerichte die Ersuchen wie in der Vergangenheit zunächst stets dem EuGH vor. Dort entscheidet der Präsident des EuGH nach einer Vorprüfung und Anhörung des Vizepräsidenten und des Ersten Generalanwalts „so schnell wie möglich“, ob er das Verfahren an das EuG weiterleitet. Stellt das EuG bei genauerer Prüfung fest, dass die Frage doch in den Zuständigkeitsbereich des EuGH fällt, muss es das Ersuchen an den EuGH zurückverweisen. Ist das EuG der Ansicht, dass die Rechtssache eine Grundsatzentscheidung erfordert, die die Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts berühren könnte, kann es das Ersuchen an den EuGH abgeben. In der Entscheidung des EuG/EuGH wird künftig kurz begründet, warum von einer Zuständigkeit des entscheidenden Gerichts ausgegangen wurde.
3 Anpassung des Verfahrens vor dem EuG
Damit die Behandlung der Vorabentscheidungsersuchen durch das EuG dem bisherigen Ansatz des EuGH weitestgehend gleichkommt, wird das Verfahren vor dem EuG dem vor dem EuGH angeglichen und entsprechende Verfahrensvorschriften erlassen. Dazu gehört, dass in jeder Rechtssache zumindest ein Generalanwalt das EuG unterstützen wird, so dass es also wenigstens in Einzelfällen – wie vor dem EuGH – zu Schlussanträgen kommt. Zudem werden die Ersuchen nach Art. 267 AEUV bestimmten Kammern des EuG zugewiesen. Das EuG entscheidet über die genauere Verteilung auf die Kammern.
4 Veröffentlichung der Schriftsätze der Beteiligten
Darüber hinaus sieht die Änderung der Satzung eine weitere Neuerung vor: Zugunsten von mehr Transparenz und Offenheit sollen künftig die eingereichten Schriftsätze aller Beteiligten des Vorabentscheidungsverfahrens, d. h. Schriftsätze der Parteien, der Mitgliedstaaten, der Kommission und ggfs. von bestimmten Organen und Einrichtungen der EU, nach Abschluss des Verfahrens auf der Website des Gerichtshofs der EU veröffentlicht werden. Jeder Beteiligte kann jedoch der Veröffentlichung seiner Schriftsätze widersprechen.
5 Bedeutung für die Praxis
Mit Blick auf das, was die Parteien eines Rechtsstreits, ihre Prozessvertreter und die nationalen Gerichte bei Zweifeln an der Auslegung von Unionsrecht tun können, bringt die Reform damit letztlich keine Änderungen. Die Parteien des Rechtsstreits können Vorlagen an den EuGH weiterhin nur anregen. Die nationalen Gerichte dürfen Fragen nach der Auslegung bzw. Gültigkeit des EU-Rechts dem EuGH vorlegen, bzw. sie müssen dies weiterhin tun. Allerdings sollte derjenige Verfahrensbeteiligte, der eine Veröffentlichung seiner Schriftsätze nicht wünscht, künftig daran denken, zu widersprechen. Auch bleibt es dabei, dass sich die Zuständigkeit des EuG/EuGH lediglich auf die Gültigkeit und Auslegung von EU-Recht beschränkt, soweit es für den konkreten Rechtsstreit entscheidungserheblich ist. Es bleibt Aufgabe der nationalen Gerichte, den Sachverhalt festzustellen, Beweise zu erheben und dann letztlich den konkreten Rechtsstreit zu entscheiden. Es wird interessant sein zu sehen, in welchen Vorabentscheidungsverfahren der EuGH künftig selbst tätig wird, und welche er an das EuG weitergibt. Denn schließlich ergeben sich in den betroffenen Sachgebieten, die nun dem EuG zugewiesen sind, nicht selten auch grundsätzliche Fragen mit großer Tragweite für die Mitgliedstaaten. Nicht zuletzt die allgemeinen Rechtsgrundsätze werden auch künftig in einer Vielzahl von Verfahren bedeutsam sein.
Ansprechpartner:
Dr. Thomas Streit, LL.M. Eur.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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Stand: 28.08.2024