Umsatzsteuer Newsletter 20/2022
BMF: Der Reemtsma-Anspruch – Hilfe bei gescheitertem Vorsteuerabzug?
Das BMF hat mit Schreiben vom 12.04.2022 erstmals zum EuGH-Urteil vom 15.03.2007 zum sog. Direktanspruch („Reemtsma-Anspruch“) Stellung genommen. Dieser gewährt Leistungsempfängern unter gewissen Voraussetzungen einen vorsteuergleichen Erstattungsanspruch gegen das Finanzamt. Das BMF schränkt diesen Anspruch jedoch sehr stark ein. Das Unionsrecht dürfte diesem engen Verständnis des Reemtsma-Anspruchs entgegenstehen.
1 Hintergrund
Den Direktanspruch (= Reemtsma-Anspruch) hatte der EuGH bereits im Jahr 2007 entwickelt (Urt. v. 15.03.2007 – C 35/05). Worum geht es bei diesem Anspruch? Ein Leistungsempfänger erhält eine Rechnung mit gesondertem Umsatzsteuerausweis und bezahlt diesen Betrag an den Leistenden. Er begehrt den Vorsteuerabzug. Das zuständige Finanzamt versagt dem Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug (bereits von Anfang an oder nachträglich), da die ausgewiesene Umsatzsteuer eine Steuer nach § 14c UStG sei. Will der Leistungsempfänger den bezahlten Umsatzsteuerbetrag zurückerlangen, müsste er ihn zivilrechtlich vom Leistenden zurückfordern – zur Not unter Zuhilfenahme der Zivilgerichte. Sollte der zivilrechtliche Anspruch aber nicht durchsetzbar oder übermäßig erschwert sein (z.B. bei Insolvenz des Leistenden), so spricht der EuGH dem Leistungsempfänger einen sog. Direktanspruch gegen sein Finanzamt zu. Dieser Anspruch entspricht wirtschaftlich dem Vorsteuerabzug.
 
 
2 BMF-Schreiben: Inhalt und Bewertung
Mit Schreiben vom 12.04.2022 erkennt das BMF den Reemtsma-Anspruch erstmalig an. Zugleich schränkt es den Anwendungsbereich jedoch erheblich ein:
  • Der Leistungsempfänger muss den Reemtsma-Anspruch bei dem für ihn zuständigen Finanzamt in einem gesonderten Billigkeitsverfahren gem. §§ 163, 227 AO geltend machen. 
Anm.: Dies dürfte unionsrechtlichen Grundsätzen widersprechen: Dem Finanzamt steht hinsichtlich des Reemtsma-Anspruchs gerade kein Ermessensspielraum zu. Zudem widerspricht eine Verfahrensverdopplung der Verfahrensökonomie.
  • Das BMF will ein Mitverschulden des Leistungsempfängers an der Erstellung der falschen Rechnung berücksichtigen.
Anm.: Der EuGH hat eine solche Einschränkung bisher nicht vorgenommen.
  • Der Leistungsempfänger muss seinen Anspruch zunächst zivilrechtlich gegenüber dem Leistenden geltend machen. Das Verfahren der Berichtigung nach § 14c Abs. 1 UStG sei vorrangig gegenüber dem Reemtsma-Anspruch. Der zivilrechtliche Anspruch ist regelmäßig nur dann unmöglich oder übermäßig erschwert, wenn ein Insolvenzantrag über das Vermögen des Leistenden mangels Masse abgelehnt worden ist. Die bloße Zahlungsunfähigkeit genügt nicht. Bei einem laufenden Insolvenzverfahren hat der Leistungsempfänger noch die Chance, dass sein Anspruch anteilig i.H.d. Quote erfüllt wird. Der Abschluss des Insolvenzverfahrens muss also abgewartet werden. 
Anm.: Auch im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens ist für den Leistungsempfänger die Geltendmachung seines Anspruchs übermäßig erschwert. 
  • Der Reemtsma-Anspruch ist akzessorisch zum zivilrechtlichen Anspruch. Im Fall der Bruttopreisabrede scheidet er aus. Ist der zivilrechtliche Anspruch aufgrund Verjährung (z.B. gem. § 195 BGB) nicht mehr durchsetzbar, gilt für den Reemtsma-Anspruch das Gleiche. 
Anm.: Zum einen erkennt der BGH bisweilen auch bei einer Bruttopreisabrede einen Rückforderungsanspruch an. Zum anderen ist der Reemtsma-Anspruch gerade für den Fall der fehlenden Durchsetzbarkeit des zivilrechtlichen Anspruchs gemacht. Die Verjährung sollte folglich unschädlich sein. 
  • Der Reemtsma-Anspruch scheidet aus, wenn keine Leistung erbracht wurde (§ 14c Abs. 2 UStG). 
Anm.: Der EuGH hat eine solche Einschränkung bisher nicht vorgenommen.
  • Auch die übrigen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs müssen vorliegen (z.B. Leistungsbezug für das Unternehmen, ordnungsgemäße Rechnung). 
Anm.: Der EuGH hat eine solche Einschränkung bisher nicht vorgenommen. 
  • Der Reemtsma-Anspruch erfordert, dass der Fiskus bereichert ist. Er scheitert also, wenn der Leistende die Umsatzsteuer nicht abgeführt oder das Finanzamt an den Leistenden im Rahmen der Korrektur gem. § 14c Abs. 1 S. 2 UStG zurückgezahlt hat (zumindest wenn dies berechtigterweise erfolgte). 
Anm.: Beim Vorsteuerabzug – dessen Voraussetzungen das BMF gleichsam auf den Reemtsma-Anspruch überträgt – wäre die Vereinnahmung des Steuerbetrags durch den Fiskus unerheblich. 
 
3 Fazit
Positiv ist, dass das BMF nach nunmehr ca. 15 Jahren den Reemtsma-Anspruch anerkennt. Negativ ist jedoch, dass das BMF diesen Anspruch übermäßig einschränkt. Der Anspruch, der die Neutralität der Umsatzsteuer herstellen soll, wird dieses Ziel so in vielen Fällen nicht erreichen. Viele der vom BMF vorgenommenen Einschränkungen sind der Rechtsprechung des EuGH nicht zu entnehmen. Sie dürften den unionsrechtlichen Prinzipien widersprechen. So wird es progressiver Finanzrichter bedürfen, die die Einschränkungen des BMF der unionsrechtlichen Prüfung unterziehen und ggf. zur unionsrechtlichen Klärung dem EuGH zur Entscheidung vorlegen. 
 
Ansprechpartner:
 

Dr. Thomas Streit, LL.M. Eur.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
Telefon: +49 89 217501275
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Stand: 05.05.2022