Umsatzsteuer Newsletter 24/2015
BFH prangert Pflegenotstand an
Nach Auffassung des BFH können Umsätze von Pflegekräften nach Unionsrecht selbst dann steuerfrei sein, wenn die Pflegekräfte nicht als „anerkannte Einrichtung“ gelten. Der BFH macht in seinem Urteil deutlich auf den Pflegenotstand in Deutschland aufmerksam. Es besteht nicht nur ein hohes Gemeinwohlinteresse, sondern es gebietet auch der Grundsatz der Gleichbehandlung, Pflegeleistungen steuerbefreit erbringen zu dürfen.

1. Problemstellung

Im Streitfall ging es um die Frage, ob sich eine Pflegekraft, die nicht die Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 UStG erfüllt, auf die unionsrechtliche Steuerbefreiungsnorm des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) MwStSystRL unmittelbar berufen kann. Problematisch war der Umstand, dass die Pflegekraft keinen Vertrag mit der Pflegekasse hatte, sondern als Mitglied eines eingetragenen Vereins für den Verein gegen Entgelt tätig war.

2. Sachverhalt

Die Klägerin war in den Streitjahren 2007 und 2008 Mitglied eines Vereins. Dabei war die Klägerin als Pflegehelferin tätig, ohne über eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin zu verfügen. Der Verein hatte mit der Klägerin eine Qualitätsvereinbarung abgeschlossen. Unstrittig war, dass der Verein umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen an die Pflegekassen erbrachte.

Das Finanzamt sah die Tätigkeit der Klägerin für den Verein als umsatzsteuerpflichtig an. Ihre Klage zum Finanzgericht hatte Erfolg.

3. BFH, Urteil vom 18.08.2015, V R 13/14

Der BFH bestätigte nun das Urteil der Vorinstanz. Die Leistungen sind zwar nach nationalem Recht steuerpflichtig. Die Pflegekraft kann sich aber auf die weitergehenden Steuerbefreiungstatbestände des Unionsrechts berufen, die das nationale Recht nur ungenügend umgesetzt hat.

Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) MwStSystRL sind steuerfrei:

„Die Mitgliedstaaten befreien eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozia-lem Charakter anerkannter Einrichtungen bewirkt werden.“

Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH und auch des BFH stand fest, dass für die Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) MwStSystRL

• leistungsbezogene Voraussetzungen und zudem
• personenbezogene Voraussetzungen

erfüllt sein müssen. Unstrittig war, dass die Klägerin mit ihrer Pflegeleistung eine mit der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistung erbracht hatte.

Problematischer war die Frage, ob die Klägerin das personenbezogene Tatbestandsmerkmal der anerkannten Einrichtung erfüllt hatte. Das Finanzamt verneinte dies, da die Pflegekraft als „Subunternehmer“ gegenüber dem Verein tätig wurde und auch keinen Vertrag mit der Pflegekasse hatte. Damit war für das Finanzamt klar, dass die Klägerin keine „anerkannte Einrichtung“ sein konnte.

Der BFH sah dies anders. Er hat festgestellt, dass es für die erforderliche Anerkennung ausreicht, wenn die Klägerin die Möglichkeit hatte, Leistungen nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI an Pflegekassen erbringen zu können.

Der BFH geht – anders als in der bisherigen Rechtsprechung – noch einen Schritt weiter. Es müssen nicht beide Merkmale kumulativ erfüllt sein: Vielmehr kann die Steuerbefreiung auch ohne Anerkennung vorliegen.

Dies ist folgerichtig. Bereits der Wortlaut des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) MwStSystRL legt dies – durch die Präposition „einschließlich“ und die Kommasetzung – nahe.

Auch der Sinn und Zweck der Vorschrift spricht dafür, dass eine natürliche Person, die eigenständig Sozialleistungen erbringt, keiner Anerkennung bedarf: Denn Leistungen am Menschen können nur von Personen, also nicht von Ma-schinen erbracht werden.

4. Hinweise für die Praxis

Aufgrund des neuen Urteils steht fest, dass es auf eine direkte vertragliche Beziehung nicht ankommt. Das neue Urteil stellt ein echtes Bekenntnis für die Pflege in Deutschland dar. Pflegekräfte, die bislang nicht unter die nationale Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 UStG fallen, können sich damit Hoffnung machen. Nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit.

Ansprechpartner:

Prof. Dr. Thomas Küffner
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer
Tel.: 089 / 217 50 12 - 30
thomas.kueffner@kmlz.de

Stand: 30.10.2015