Umsatzsteuer Newsletter 27/2016
Rechnungsberichtigungen wirken zurück!
Der EuGH hat am 15.09.2016 zwei grundlegende Urteile veröffentlicht. Nun müssen die deutsche Finanzverwaltung und die Finanzgerichtsbarkeit in vielen Fällen umdenken. Der Formalismus bei der Rechnungsstellung wird deutlich gelockert. Zinszahlungen aufgrund formaler Rechnungsmängel werden weitestgehend der Vergangenheit angehören. Unternehmen, denen in der Vergangenheit der Vorsteuerabzug aufgrund formeller Rechnungsmängel versagt wurde, haben nun die Möglichkeit, die gezahlten Zinsen zurückzuholen. Die Urteile sind aber kein Freibrief. Sie helfen vielmehr nur, den überbordenden Formalismus einzudämmen. Es wird einige Zeit dauern, bis hier mit einer offiziellen Reaktion der Finanzverwaltung zu rechnen ist. Steuerpflichtige sollten ihre Chancen aber umgehend nutzen.

Rechnungen, die nicht die strengen Anforderungen des § 14 Abs. 4 UStG erfüllen, sollen nach Auffassung der Finanzverwaltung nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen. Werden solche formell mangelhaften Rechnungen später in einer Betriebsprüfung entdeckt, muss der Steuerpflichtige die bis dahin zu Unrecht geltend gemachten Vorsteuern zurückzahlen. Außerdem ist der Rückzahlungsbetrag mit 6 % p.a. zu verzinsen. Dabei stellt die Finanzverwaltung, unterstützt von der Rechtsprechung, extrem hohe Ansprüche an die Ordnungsgemäßheit der Rechnung. Leistungsbeschreibungen z. B. müssen so präzise sein, dass die Gefahr einer Doppelabrechnung vermieden wird. Die Rechtsprechung versagt selbst dann den Vorsteuerabzug, wenn allen Beteiligten die erbrachte Leistung vollkommen klar war und keinerlei Betrugsabsichten im Raum standen.

Der EuGH bestätigt (Urteil v. 15.09.2016, C 516/14 – Bar-lis 06; Urteil v. 15.09.2016, C 518/14 – Senatex) nun ausdrücklich, dass es möglich ist, Rechnungen mit Rückwirkung zu berichtigen. Für diese Entscheidung hat der Neutralitätsgrundsatz überragende Bedeutung. Der Unternehmer soll vollständig von der Umsatzsteuer entlastet werden. Gerade in der sich ergebenden Belastung mit Zinsen (§ 233a AO) sieht der EuGH eine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes. Maßgeblich für den Vorsteuerabzug ist allein, dass der Leistungsempfänger Unternehmer ist und die Leistung für sein Unternehmen bezogen hat. Das Vorliegen einer Rechnung hingegen ist nur eine formelle Voraussetzung.

Der EuGH äußert sich nicht zu der Frage, welche Mindestanforderungen erfüllt sein müssen, um eine Rechnung mit Rückwirkung ergänzen zu können. Im Vorlagefall stand nämlich fest, dass die Rechnung ordnungsgemäß berichtigt war. Ausschließlich hierauf stellt der EuGH ab. Berichtigen lässt sich nach § 31 Abs. 5 UStDV jede fehlende oder unzutreffende Angabe im Sinne des § 14 Abs. 4 UStG. Daraus kann man nur schließen, dass es keine Mindestanforderungen an ein berichtigungsfähiges Dokument gibt. Abzugrenzen sind diese Fälle lediglich von Fällen wie der Rechtssache Terra Baubedarf (C 152/02). Hier lag gar keine Rechnung vor. Daraus ergibt sich aber zugleich auch eine wichtige Schlussfolgerung für die Praxis. Bei Rechnungskorrekturen ist stets ein Berichtigungsbeleg zu erstellen. Die von den Buchhaltungen häufig favorisierte Lösung, die Rechnung vollständig zu stornieren und neu auszustellen, bleibt hingegen kritisch. Hier könnte die Finanzverwaltung argumentieren, dass durch das Storno eine Situation ähnlich der in der Rechtssache Terra Baubedarf (C 152/02) entsteht.

Folgende Argumente führt der EuGH als Begründung in der Rechtssache Senatex an:

• Der Vorsteuerabzug ist grundsätzlich nicht zu beschränken. Durch Nachzahlungszinsen i. S. v. § 233a AO wird der Neutralitätsgrundsatz verletzt.

• Der Vorsteuerabzug ist zu gewähren, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind. Rechnungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH nur formelle Anforderungen.

• Der Steuerpflichtige muss eine Rechnung besitzen. Ohne Rechnung ist auch kein Vorsteuerabzug möglich.

• Den Mitgliedstaaten steht es frei, Sanktionen festzulegen, wenn formelle Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Es wäre daher z. B. möglich, dass eine formell fehlerhafte Rechnung ein Bußgeld auslöst. Die Grenze für die Höhe von Bußgeldern stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar.

• Zur Frage, bis wann eine Rechnung zu korrigieren ist (in der Betriebsprüfung, im Einspruchsverfahren etc.), äußerte sich der EuGH nicht. Diese Frage war im Vorabentscheidungsverfahren unerheblich. Alle Seiten waren sich einig, dass die Belege noch in der Außenprüfung korrigiert wurden. Daher erfolgte die Berichtigung jedenfalls rechtzeitig.

Auch in der Rechtssache Barlis 06 ging es um die Frage, wie ausführlich eine Leistungsbeschreibung zu sein hat, und um die Festlegung des Leistungsdatums. Der EuGH stellt klar, dass die Mitgliedstaaten keine weiteren Kriterien neben den in Art. 226 der MwStSystRL fordern dürfen. Damit erteilt er u. E. eine klare Absage an die Rechtsprechung des BFH. Dieser hat nämlich als weitere Begründung für seine Forderung nach einer sehr detaillierten Leistungsbeschreibung stets angeführt, dass nur so das Risiko von Doppelabrechnungen vermieden werden kann. Da sich in Art. 226 Nr. 6 MwStSystRL jedoch nichts findet, was die Ansicht des BFH stützen würde, muss er seine Rechtsprechung hier überdenken. Der EuGH betont, die Angabe des Leistungszeitpunkts und die Leistungsbeschreibung sei erforderlich, damit die Finanzverwaltung prüfen kann, ob die Steuer zeitgerecht entrichtet wurde.

Viel wichtiger ist aber die ausdrückliche Feststellung des EuGH, dass der Vorsteuerabzug nicht allein deshalb verweigert werden kann, weil eine Rechnung formelle Anforderungen nicht erfüllt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Finanzverwaltung über sämtliche Daten verfügt, um selbst zu prüfen, ob der Vorsteuerabzug berechtigt ist. Sie hat dabei auch die zusätzlichen Informationen zu berücksichtigen, die der Steuerpflichtige beibringt. Dabei ist allerdings grundsätzlich der Steuerpflichtige in der Beweispflicht. Das heißt, er hat die notwendigen Unterlagen vorzulegen. In diesen Fällen kann dann u. U. sogar eine Rechnungsberichtigung unterbleiben.

Wie positiv sich diese Entscheidungen auf den einzelnen Steuerpflichtigen auswirken können, hängt nun maßgeblich von der AO ab. Zum einen stellt sich die Frage, inwiefern in der Vergangenheit bereits entrichtete Zinsen zurückgefordert werden können. Dabei spielt dann eine maßgebliche Rolle, ob die damaligen Zinsfestsetzungen noch änderbar sind. Gegebenenfalls ist hier zu prüfen, ob ein rückwirkendes Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO vorliegt. Dies hätte dann aber auch u. U. wieder Einfluss auf die Zinsberechnung (vgl. § 233a Abs. 2a i. V. m. Abs. 7 AO). Letzteres erscheint in Anbetracht der Begründung des EuGH eher unwahrscheinlich. Der EuGH sieht in der Verzinsung eine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes. Insofern kann dem EuGH-Urteil nur entsprochen werden, wenn man § 233a Abs. 7 AO ablehnt.

Beispiel:
Ein Steuerpflichtiger hat formell mangelhafte Rechnungen für die Jahre 2008 bis 2010 erhalten. Er macht hieraus zunächst den Vorsteuerabzug geltend. Im Jahr 2014 wird in einer Betriebsprüfung der Vorsteuerabzug gestrichen. Die Änderungsbescheide samt Zinsfestsetzung gehen dem Steuerpflichtigen im Jahr 2014 zu. Im selben Jahr erhält er korrigierte Rechnungen. Ebenfalls 2014 macht er aus den korrigierten Rechnungen den Vorsteuerabzug geltend. Er bekommt die Vorsteuer erstattet.

Lösung:
Auf Basis der beiden aktuellen EuGH-Urteile ist der Vorsteuerabzug für das Jahr 2008 bis 2010 wieder zu gewähren. Die Bescheide sind erneut zu ändern, ebenso die Zinsfestsetzung. Mit dem Zeitpunkt der Zahlung (im Zweifel Verrechnung) der zusätzlichen Steuer beginnt gemäß § 233a Abs. 3 Satz 3 AO zugunsten des Steuerpflichtigen eine Verzinsung. Gleichzeitig ist dem Steuerpflichtigen der Vorsteuerabzug im Jahr 2014 zu streichen. Hier beginnt die Verzinsung gemäß § 233a Abs. 2 Satz 1 AO mit Ablauf von 15 Monaten allerdings erst nach Ende des Kalenderjahres. Es ergibt sich also ein Delta zugunsten des Steuerpflichtigen.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten:
1. Als fehlerhaft erkannte Rechnungen sollten stets und unverzüglich berichtigt werden. Der EuGH musste zur Frage des Zeitpunkts, bis zu dem eine Rechnungsberichtigung zu erfolgen hat, nicht Stellung nehmen. Eine sofortige Berichtigung ist auch deswegen zwingend erforderlich, weil man nicht sicher sein kann, ob eine Rechnungsberichtigung Jahre später tatsächlich noch möglich ist. Lieferanten können liquidiert, verschmolzen oder aus anderen Gründen nicht mehr auffindbar sein.

2. Es wäre äußerst fahrlässig, wenn Unternehmen im Hinblick auf die vorliegende Rechtsprechung nun auf eine Rechnungsberichtigung oder eine Formalprüfung von Rechnungen verzichten würden. Die Umsetzung der Ent-scheidung des EuGH durch die Finanzverwaltung und die deutschen Gerichte wird Jahre in Anspruch nehmen. Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung in einem anderen Bereich der formellen Nachweisvoraussetzungen, nämlich dem Buch- und Belegnachweis bei innergemeinschaftlichen Lieferungen, so steht zu befürchten, dass insbesondere der BFH Mittel und Wege finden wird, die jetzt ergangene, für die Steuerpflichtigen sehr positive Recht-sprechung des EuGH systematisch zu begrenzen. Nichts anderes hat der BFH im Bereich der innergemeinschaftlichen Lieferungen getan.

3. Eine entscheidende Rolle wird hier in allen Fällen der Abgabenordnung zukommen. Inwieweit ist Vertrauensschutz zu gewähren?

4. Erfolgten in vergangenen BP-Zeiträumen Zinsfestsetzugen aufgrund formeller Rechnungsmängel, sollten alle Einzelfälle daraufhin geprüft werden, ob und inwieweit die gezahlten Zinsen rückforderbar sind.

Es ist also einiges zu tun. Die Mühe kann sich aber richtig lohnen.

Dr. Stefan Maunz
Rechtsanwalt, Steuerberater,
Fachanwalt für Steuerrecht
Tel.: 089 / 217 50 12 - 40
stefan.maunz@kmlz.de

Stand: 19.09.2016