Umsatzsteuer Newsletter 58/2020
Rückwirkende Rechnungsergänzung bei irriger Annahme innergemeinschaftlicher Dienstleistungen
Gehen Unternehmer irrig von der Steuerschuld des Leistungsempfängers aus, muss der Leistende an das Finanzamt Umsatzsteuer nachzahlen, zuzüglich etwaiger Zinsen. Der Leistungsempfänger konnte die Vorsteuer bisher erst mit Erhalt einer ordnungsgemäßen Rechnung geltend machen. Erstattungszinsen ergaben sich daher nicht. Das BMF bejahte zwar eine rückwirkende Rechnungsergänzung für Fälle nach § 13b Abs. 2 UStG, nicht jedoch bei vermeintlich innergemeinschaftlichen Dienstleistungen nach § 13b Abs. 1 UStG. Das FG Niedersachsen widerspricht dieser Einschränkung in zwei Urteilen vom 17.09.2020 (Az. 11 K 323/19 und 11 K 324/19).
1 Hintergrund
Seit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Senatex ist klar, Rechnungen können rückwirkend berichtigt werden (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 27 I 2016). Der BFH gab daraufhin seine gegenteilige Auffassung auf, setzte der Rechnungsergänzung jedoch Grenzen. Eine Rückwirkung komme nur dann in Betracht, wenn die zu ergänzende Rechnung Angaben zu Aussteller, Leistungsempfänger, Leistungsbeschreibung, Entgelt und einen Steuerausweis enthalte (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 01 I 2017). Auch die Finanzverwaltung änderte ihre Praxis und setzte die Rechtsprechung von EuGH und BFH um. Die Änderung des UStAE folgte verzögert mit BMF-Schreiben vom 18.09.2020 (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 49 I 2020). Darin geht die Finanzverwaltung davon aus, dass – entgegen dem BFH – ein Steuerausweis für eine rückwirkende Rechnungsberichtigung nicht erforderlich ist, wenn die Beteiligten irrig die Steuerschuld des Leistungsempfängers angenommen haben (Tz. 23). Dies gelte jedoch nur für (vermeintliche) Fälle nach § 13b Abs. 2 UStG und wenn auf die vermeintliche Steuerschuld des Leistungsempfängers hingewiesen werde. Das FG Niedersachsen bejaht in zwei Urteilen vom 17.09.2020 (Az. 11 K 323/19 und 11 K 324/19) die Rückwirkung der Rechnungsergänzung bei (vermeintlichen) Fällen nach § 13b Abs. 1 UStG.
 
2 Sachverhalt
Im Fall 11 K 324/19 ist die Klägerin eine vormalige S.A. mit Sitz in Luxemburg. Sie bezog verschiedene Leistungen von Unternehmern mit Sitz in Deutschland. Entsprechend gingen die Beteiligten davon aus, dass die Leistungen am Sitz der Kl. der luxemburgischen Umsatzbesteuerung unterliegen und die Kl. Steuerschuldner sei. Die Unternehmer fakturierten ihre Leistungen entweder mit 0% Steuer oder ohne Steuerausweis mit Hinweis auf Reverse Charge.
Im Fall 11 K 323/19 ist der Kläger ein Unternehmer mit Sitz in Deutschland. Er bezog Transportleistungen von einer S.A. mit Sitz in Luxemburg. Entsprechend gingen die Beteiligten davon aus, dass die Leistungen am Sitz des Kl. der deutschen Umsatzbesteuerung unterliegen und er Steuerschuldner sei. Die S.A. fakturierte ihre Leistungen ohne Steuerausweis mit Hinweis auf Steuerschuld des Kl.
 
Tatsächlich befand sich in beiden Fällen die Geschäftsleitung der S.A. und damit ihr umsatzsteuerlicher Sitz in Deutschland (vgl. § 10 AO). Die Leistungen unterfallen daher in beiden Fällen der deutschen Umsatzbesteuerung. Steuerschuldner sind die jeweils Leistenden. Die Leistenden erteilten neue Rechnungen mit deutschem Steuerausweis. Die Kl. begehren mit den Klagen die rückwirkende Berücksichtigung der Vorsteuern.
 
3 Entscheidung des Gerichts
Die Begründungen der Urteile sind beinahe identisch. Das FG bekräftigt zunächst, dass der Vorsteuerabzug eine ordnungsgemäße Rechnung voraussetze (Rn. 24). Auch seien die vom BFH gestellten Mindestanforderungen an eine ergänzungsfähige Rechnung zulässig. Schließlich habe der Rechnungsempfänger es in der Hand, die Rechnung sorgfältig zu prüfen. Unterlasse er dies, könne die Rückwirkung versagt werden (Rn. 45). Die Mindestanforderung des Steuerausweises müsse jedoch entfallen, wenn die Beteiligten irrig die Steuerschuld des Leistungsempfängers annehmen. Denn in diesem Fall verbiete das UStG einen Steuerausweis. Stattdessen sei auf die Steuerschuld des Leistungsempfängers zu verweisen (Rn. 44 f.). Gegen das Urteil 11 K 324/19 wurde Revision beim BFH eingelegt (Az. V R 33/20). Das Urteil 11 K 323/19 ist rechtskräftig. 
 
4 Folgen für die Praxis
Setzt sich die Auffassung des FG durch, wird die Problematik der Rechnungsergänzung um eine Komponente bereichert. Gehen die Beteiligten irrig von der Steuerschuld des Leistungsempfängers aus, erfolgt die Korrektur künftig für alle Beteiligten mit Rückwirkung. Das gilt nicht nur für Fälle nach § 13b Abs. 2 UStG (vgl. BMF-Schreiben vom 18.09.2020, Tz. 23), sondern auch für Fälle nach § 13b Abs. 1 UStG. Voraussetzung ist und bleibt eine ergänzungsfähige Rechnung. Statt des Steuerausweises bedarf es eines Hinweises auf die (vermeintliche) Steuerschuld des Leistungsempfängers. Folglich könnten Nachzahlungszinsen beim Leistenden künftig Erstattungszinsen beim Leistungsempfänger gegenüberstehen.
 
Darüber hinaus sind die beiden Urteile Ausgangspunkt für eine Fülle praxisrelevanter Fragen. (1) So wäre die Rückwirkung zu begrenzen, wenn der maßgebliche Besteuerungszeitraum beim Leistungsempfänger bestandskräftig festgesetzt oder festsetzungsverjährt ist (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 16 I 2018). Gleiches gilt, wenn ein Vergü¬tungsantrag verfristet ist (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 14 I 2018). (2) Auch trifft die Argumentation des FG im Kern für irrig nicht steuerbar oder steuerfrei behandelte Leistungen zu (vgl. Rn. 43). In diesen Fällen dürfte der Rechnungsteller ebenfalls keine Steuer ausweisen. (3) Sonderfragen ergeben sich bei Rechtsnachfolge, Insolvenz und Organschaft.
 
Die Urteile wirken begünstigend bei einfachen Sachverhalten und großen Vorsteuerbeträgen. Dann kann der Leistungsempfänger von Erstattungszinsen profitieren. Bei komplexen Sachverhalten, kleinen Beträgen und im Buchungsalltag kompensieren Mehraufwand und neue Rechtsunsicherheit schnell etwaige Erstattungszinsen. Zudem erfordert die korrekte Behandlung von Rechnungsergänzungen zusätzliches Know-how in der Buchhaltung. Vorrangig sollten Unternehmer daher zutreffende Aus- und Eingangsrechnungsprozesse sicherstellen. Denn die einfachste Rechnungsergänzung bleibt diejenige, die nicht erforderlich ist. 
 
Ansprechpartner:
 
 
Jörg Scharrer
Rechtsanwalt, Dipl.-Kfm
+49 (0) 89 217 50 12-33
 
Stand: 27.11.2020