Umsatzsteuer Newsletter 50/2019
Falsches Verständnis von Behindertenwerkstätten: BFH sieht keinen Raum für ermäßigten Steuersatz
Unter welchen Voraussetzungen greift für Behindertenwerkstätte und Integrationsbetriebe der ermäßigte Umsatzsteuersatz? Der BFH tendiert mit seinem Urteil vom 23.07.2019 (Az. XI R 2/17) deutlich dazu, eine Steuerermäßigung nur sehr restriktiv zuzulassen. Dabei ignoriert er die Funktionsweise dieser gemeinnützig wirkenden Einrichtungen ebenso wie die sich aus dem Unionsrecht ergebende Begünstigung der sozialen Zweckverfolgung.
1 Hintergrund
Im Urteil des BFH mit dem Az. XI R 2/17 geht es um die Frage, wann der ermäßigte Steuersatz auf Umsätze des Zweckbetriebs einer gemeinnützigen Einrichtung Anwendung findet. Der BFH lässt solche Steuerermäßigungen nur noch unter sehr engen Voraussetzungen zu. 
 
2 Sachverhalt
Der Kläger ist ein gemeinnütziger Verein, der mildtätige Zwecke i. S. d. § 53 AO verfolgt. Zur Erfüllung seines Satzungszwecks unterhält er eine Werkstatt für behinderte Menschen. Daneben betreibt er ein Bistro und eine öffentliche Toilette, die nicht Betriebsteil der Werkstatt sind. Dort beschäftigt der Kläger auch behinderte Arbeitnehmer. Der Kläger unterwarf die Umsätze aus dem Betrieb des Bistros und der Toilette dem ermäßigten Steuersatz, während das Finanzamt den Regelsteuersatz anwandte. 
 
3 Entscheidung des BFH
Der BFH hat das Vorliegen der Voraussetzungen für den ermäßigten Steuersatz gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG verneint. Grundlage der Entscheidung ist die Auslegung des nationalen Rechts unter Beachtung von Art. 98 i. V. m. Anhang III Nr. 15 MwStSystRL. Danach dürften die Mitgliedstaaten insbesondere „nicht auf alle gemeinnützigen Leistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden […], sondern nur auf diejenigen, die von Einrichtungen erbracht werden, die sowohl gemeinnützig als auch für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sind“ (EuGH, Urt. v. 17.06.2010 – C-492/08). Andere als gemeinnützige Leistungen seien unionsrechtlich vom Anwendungsbereich der Steuerermäßigung ausgeschlossen. § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 1 UStG sei deswegen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. In der Folge seien die Regelungen des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 2 und 3 UStG weit auszulegen, solange sie zur Anwendung des Regelsteuersatzes führten.
 
Im konkreten Fall verneint der BFH das Vorliegen der Voraussetzungen einer Steuerermäßigung, trotz Bestehen eines Zweckbetriebes i. S. d. § 68 Nr. 3 Buchst c AO. Er begründet dies damit, dass der Verein in erster Linie zusätzliche Einnahmen durch Umsätze erzielt habe, die für den Satzungszweck nicht unerlässlich seien. Außerdem trete der Verein mit dem Bistro und der öffentlichen Toilette in Wettbewerb zu anderen Unternehmern.
 
Vor allem verwirkliche er auch nicht „mit diesen“ Leistungen seinen Satzungszweck. Denn die einzelnen Gastronomieleistungen des Bistros wie auch die Zurverfügungstellung der Toilette dienten in erster Linie den Zwecken der Besucher und Nutzer, die nicht vom gemeinnützigen Zweck der Einrichtung erfasst würden. Sie seien nicht originär gemeinnützig i. S. v. Art. 98 Abs. 2 und 3 i. V. m. Anhang III Nr. 15 MwStSystRL. Zudem gehe die zu schützende Wettbewerbsneutralität aufgrund der drohenden Wettbewerbsverzerrungen einem etwaigen sozialen Lenkungszweck vor.
 
4 Praxisfolgen
Die Entscheidung reiht sich in die Linie des BFH ein, den ermäßigten Steuersatz bei gemeinnützigen Einrichtungen nur sehr eingeschränkt zur Anwendung kommen zu lassen. Gemeinnützige Einrichtungen müssen nun dezidiert prüfen, ob die Umsätze ihrer Zweckbetriebe (weiterhin) dem ermäßigten Steuersatz von 7 % unterfallen. 
 
Laut BFH greift eine Ermäßigung nur dann, wenn entweder die Tätigkeit nicht in unmittelbarem Wettbewerb zu regelbesteuerten Unternehmern steht oder wenn der steuerbegünstigte Satzungszweck unmittelbar mit der Leistungserbringung verwirklicht wird. Das Erfordernis einer originär gemeinnützigen Leistung i. S. v. Art. 98 Abs. 2 i. V. m. Anhang III Nr. 15 MwStSystRL läge im Entscheidungsfall nur dann vor, wenn ausschließlich Leistungen gegenüber den behinderten Personen erbracht würden. Eine Teilhabe der behinderten Arbeitnehmer an der Leistungserbringung genüge demnach nicht. Diese Aussage ist für zahlreiche Integrationsbetriebe von höchster Relevanz. Wenn sich die Linie des BFH tatsächlich durchsetzt, werden sie es zukünftig sehr schwer haben, in vergleichbaren Sachverhalten eine Steuerermäßigung ihrer Umsätze zu erreichen. 
 
Der BFH verkennt nach unserer Einschätzung die Funktionsweise von Behindertenwerkstätten und Inklusionsbetrieben. Mit der Zubereitung von Speisen und der Bedienung durch behinderte Menschen verwirklicht die Einrichtung gerade wohltätige Zwecke. Der behinderte Mensch steht hier im Vordergrund. Der Verbraucher besucht diese Einrichtungen nicht in erster Linie, um ein fertiges Produkt zu konsumieren, sondern vor allem, um die Behinderten am gesellschaftlichen (Arbeits-)Leben teilhaben zu lassen. 
 
Fraglich ist auch, ob hier nicht eine Kompetenzüberschreitung seitens des BFH vorliegt. Nach unserem Dafürhalten hätte der EuGH angerufen werden müssen. Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL greift zugunsten von Inklusionsbetrieben, da diese Einrichtungen als gemeinnützig anerkannt sind und sie mit ihren Leistungen dem wohltätigen Zweck der Inklusion und der sozialen Sicherheit dienen.
 
Solange das Urteil des BFH nicht Niederschlag im UStAE gefunden hat und im Bundessteuerblatt nicht veröffentlicht ist, ist davon auszugehen, dass die Finanzverwaltung weiterhin Abschn. 12.9 Abs. 9 UStAE anwendet. 
 
Ansprechpartner:
 
 
Prof. Dr. Thomas Küffner
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht,
Steuerberater, Wirtschaftsprüfer
Tel.: +49 89 217501230
 
Stand: 18.12.2019