Umsatzsteuer Newsletter 44/2022
Steuerfreie Heilbehandlung im Rahmen eines therapeutischen Kontinuums
Werden Leistungen im Rahmen eines therapeutischen Kontinuums erbracht, können sie als Heilbehandlung steuerfrei sein, auch wenn im Kontinuum unterschiedliche Unternehmer tätig werden. Dies bestätigt der BFH in seinem Beschluss zur Steuerfreiheit der isolierten Einlagerung eingefrorener Samen- und Eizellen im Zusammenhang mit einer Kryokonservierung, mit dem er sich ausdrücklich in Widerspruch zur Auffassung der Finanzverwaltung setzt. Jedoch klärt der BFH nicht eindeutig, unter welchen Umständen die Beteiligung mehrerer Unternehmer für die Steuerbefreiung unschädlich sein soll.
1 Hintergrund
§ 4 Nr. 14 Buchst. a UStG befreit Heilbehandlungen, die im Rahmen der Ausübung bestimmter ärztlicher Berufe durchgeführt werden, von der Umsatzsteuer. Die Einordnung als steuerfreie Heilbehandlung setzt voraus, dass die Tätigkeit therapeutische Ziele verfolgt. 
 
Für das Einfrieren (Kryokonservierung) und Lagern von Samen- und Eizellen sieht die Finanzverwaltung die Steuerbefreiung als Heilbehandlung vor, wenn diese Leistungen im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsbehandlungen erfolgen (Abschn. 4.14.2 Abs. 4 UStAE). Dem BFH folgend erachtet die Finanzverwaltung auch die „weitere Lagerung“ eingefrorener Samen- oder Eizellen als steuerfrei, wenn damit (weiterhin) ein therapeutischer Zweck wie beispielsweise das Herbeiführen einer weiteren Schwangerschaft bei organisch bedingter Sterilität verfolgt wird. 
 
Für die „bloße Lagerung“ durch einen Dritten, der nicht ebenfalls die vorhergehende oder anschließende Fruchtbarkeitsbehandlung erbringt, stellt Abschn. 4.14.2 Abs. 4 S. 4 UStAE hingegen eine Regelvermutung der Umsatzsteuerpflicht auf. Dieser Auffassung hat der BFH nun ausdrücklich widersprochen.
 
2 Sachverhalt
An einer GbR, welche tiefgekühlte Samen- und Eizellen zum Zweck der medizinisch indizierten künstlichen Befruchtung  bei organisch bedingter Sterilität lagert, sind drei Fachärzte für Frauenheilkunde und Geburtshilfe beteiligt. Daneben betreiben die Ärzte ein – mit der GbR nicht organschaftlich verbundenes – Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ). Entscheiden sich Patienten im Rahmen der Kinderwunschbehandlung für eine Kryokonservierung, schließen sie einen Vertrag über die Kryokonservierung von Eizellen oder Embryonen mit dem MVZ und einen Vertrag über deren Lagerung mit der GbR. Die Leistung der GbR in diesem Zusammenspiel erachtete die Finanzverwaltung als steuerpflichtig. 
 
3 Beschluss des BFH vom 07.07.2022 (V R 10/20)
Der BFH stellt zunächst klar, dass auch die isolierte Lagerung eingefrorener Eizellen steuerfrei ist, wenn mit ihr ein therapeutischer Zweck verfolgt wird. Dies ergibt sich nach Auffassung des BFH bereits aus seinem früheren Urteil zur (verlängerten) Lagerung eingefrorener Samen- und Eizellen im Anschluss an eine erfolgreiche Befruchtung (BFH, Urt v. 29.7.2015 – XI R 23/13). Danach ist die Lagerung im Falle der therapeutischen Zielsetzung (z. B. zur Herbeiführung einer weiteren Schwangerschaft bei organisch bedingter Sterilität) gerade als eigenständige Leistung steuerfrei, ohne dass es darauf ankommt, ob ihr weitere Fruchbarkeitsbehandlungen des Unternehmers vorausgingen oder nachfolgen. 
 
Zur Einordnung als Heilbehandlung führt der BFH aus, dass die Lagerung vorliegend aufgrund der vorangehenden oder sich anschließenden Fruchtbarkeitsbehandlung einen therapeutischen Zweck verfolgt. Als unerlässlicher Bestandteil der Fruchbarkeitsbehandlung erfolgt die Lagerung in einem therapeutischen Kontinuum und erfüllt daher den Charakter einer Heilbehandlung. Dass Fruchtbarkeitsbehandlung und Einlagerung durch unterschiedliche Unternehmer erfolgen, sieht der BFH „jedenfalls dann“ als unerheblich an, wenn wie vorliegend für beide Unternehmer dieselben Personen tätig sind.
 
4 Praxisfolgen
Durch das Konzept des therapeutischen Kontinuums können unerlässliche Bestandteile von Heilbehandlungen nicht nur als unselbständige Nebenleistung in den Genuss der Steuerbefreiung kommen, sondern auch als eigenständige Leistung steuerfrei sein. Es ist zu begrüßen, dass der BFH dies nun ausdrücklich auch im Kontext von Heilbehandlungen klarstellt. Denn während der EuGH das Konzept im Zusammenhang mit steuerfreien Heilbehandlungen eingeführt hat, hatte der BFH es bislang lediglich für eng verbundene Umsätzen zu Krankenhausleistungen aktiv angewandt. 
 
Besonders interessant ist dabei, dass die Steuerfreiheit auch dann zur Anwendung kommen kann, wenn im Rahmen des therapeutischen Kontinuums unterschiedliche Unternehmer tätig werden. Dies soll ohne Zweifel gelten, wenn bei beiden Unternehmern dieselben Personen tätig werden. Die Entscheidung des BFH legt jedoch nahe, dass das Konzept des therapeutische Kontinuums auch ohne Personenidentität zur Steuerfreiheit von Leistungen unterschiedlicher Unternehmer führen kann. So dürfte zumindest der Wortlaut „jedenfalls dann“ sowie der Verweis auf sein früheres Urteil zu steuerfreien Analysen eines Laborarztes als gegenüber dem behandelnden Arzt eigenständigen Unternehmer deutbar sein.
 
Zumindest für die (isolierte) Lagerung von Samen- und Eizellen ist die Auffassung der Finanzverwaltung mit der Entscheidung des BFH überholt und die ensprechende Regelung im UStAE zu ändern. Inwieweit sich darüber hinaus Änderungen für den Begriff der Heilbehandlung ergeben, bleibt zunächst abzuwarten. Denn auch wenn der BFH das therapeutische Kontinuum bisher nicht aktiv angewandt hat, so kam er im angesprochenen Urteil zu medizinischen Analysen eines Laborarztes dennoch zur Steuerfreiheit, indem er die Analysen aufgrund ihrer Zielsetzung der Unterstützung vorbeugender Beobachtungen und Untersuchungen unter den Begriff der Heilbehandlungen fasste. Auch hier hatte der BFH inhaltlich also darauf abgestellt, wie sich die Analysen in die Behandlung einfügen, was dem Konzept des Kontinuums entspricht. Dennoch sollten im Zusammenhang mit Heilbehandlungen tätige Unternehmer überprüfen, ob die Grundsätze der Entscheidung auf ihre Umsätze übertragbar sind und damit gegebenenfalls die Steuerfreiheit erreicht werden kann. 
 
Ansprechpartner:
 
 
Laura Klein
Steuerberaterin, Master of Science (M.Sc.)
(Rechts- und Wirtschaftswissenschaften)
Telefon: +49 89 217501296
 
Stand: 02.11.2022