Umsatzsteuer Newsletter 37/2023
Im Fokus: Aktuelle Entscheidungen zum Prozess- und Verfahrensrecht
„Recht haben und Recht bekommen sind zwei Paar Schuhe.“ So hängt der Erfolg von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen maßgeblich nicht nur vom materiellen Recht ab. Entscheidende Bedeutung kommt auch dem Verfahrens- und Prozessrecht zu. Folgende aktuelle Entscheidungen könnten dabei von Bedeutung sein: • Auslegung von Einspruchsentscheidungen: (Teil-)Einspruchsentscheidung und Konsequenzen für nachfolgende Klageverfahren • Videoverhandlung vor dem FG und Verfahrensfehler: Ordnungsgemäße Gerichtsbesetzung • 6 % AdV-Zinsen verfassungswidrig? – BFH-Verfahren anhängig • Beteiligtenvernehmung als Beweismittel vor dem Finanzgericht
1 (Teil )Einspruchsentscheidung: Konsequenzen für nachfolgendes Klageverfahren
Der BFH hatte sich in einem Beschluss v. 12.05.2022 (V R 31/20) mit der Frage zu befassen, ob die beklagte Finanzbehörde eine Teil- oder eine vollumfängliche Einspruchsentscheidung erlassen hatte. Im Einspruchsverfahren war die Behandlung von zwei Sachverhalten streitig (Vorsteuerabzug und Besteuerung von Ausgangsumsätzen). Die Einspruchsentscheidung, die das Finanzamt dann erließ, berücksichtigte ausdrücklich jedoch nur einen der beiden Sachverhalte (Vorsteuerabzug). Über den anderen Streitpunkt (Besteuerung Ausgangsumsätze) erließ die Finanzbehörde auch keinen gesonderten Teilabhilfebescheid, obwohl insoweit zuvor eine mündliche Einigung dazu erreicht worden war. Der Kläger wandte sich in der Klage nur gegen den in der Einspruchsentscheidung behandelten Streitpunkt. Dies hatte zur Konsequenz, dass auch der zweite Streitpunkt nach Abschluss des Klageverfahrens Bestandskraft erlangte, obwohl die Finanzbehörde darüber nicht ausdrücklich befunden hatte. Denn der BFH legte die Behördenentscheidung nach dem objektiven Verständnishorizont als umfängliche Einspruchsentscheidung aus, sodass der Kläger seine Klage gegen beide Streitpunkte hätte richten müssen. Der BFH stellt dabei auf verschiedene Aspekte ab, u.a. auf die Bezeichnung als (vollständige) „Einspruchsentscheidung“. Kläger, gegen die eine (Teil )Einspruchsentscheidung ergangen ist, sollten den Umfang dieser behördlichen Entscheidung stets genau überprüfen und in Zweifelsfällen auch gegen nicht ausdrücklich erwähnte Sachverhalte vorgehen.
 
2 Videoverhandlung vor dem FG und gesetzlicher Richter
Auf Antrag kann das FG gem. § 91a FGO gestatten, dass eine mündliche Verhandlung mittels „Videokonferenz“ stattfindet. Verfahrensbeteiligte, die dies beantragen, werden in einem solchen Fall per Videokonferenz der mündlichen Verhandlung zugeschaltet. Im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) musste sich der BFH nun mit einem Fall beschäftigen, in dem während der meisten Zeit der mündlichen Verhandlung vor dem FG allein der Vorsitzende Richter im Bild zu sehen war, nicht aber die gesamte Richterbank. Der BFH erblickt darin einen Verfahrensfehler (BFH, Beschl. v. 30.06.2023 – V B 13/22), der zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung des Falls ans FG führt, weil das Recht des Beschwerdeführers (Bf.) auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 119 Nr. 1 FGO i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt wurde. Bei einer sog. „Videokonferenz“ muss gleichermaßen wie bei einer körperlichen Präsenz im Verhandlungssaal feststellbar sein, ob die beteiligten Richter anwesend und in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Dies ist nur dann möglich, wenn alle Richter auch für die lediglich zugeschalteten Beteiligten zu sehen sind. Die Videoübertragungstechnik soll ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität genutzt werden. Wie dies gewährleistet wird, ist Sache des jeweiligen Gerichts. Unschädlich war für den BFH auch, dass der Bf. diesen Verfahrensfehler nicht bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem FG, sondern erstmalig vor dem BFH gerügt hat. Viele Verfahrensfehler – auch bei Verhandlungen mittels „Videokonferenz“ – gelten als geheilt, wenn sie nicht rechtzeitig gerügt werden. Anders ist dies jedoch bei einer inkorrekten Gerichtsbesetzung. Einen solchen Fehler heilt eine fehlende Rüge bereits vor dem FG nicht.
 
3 6 % AdV-Zinsen verfassungswidrig?
Mit Beschluss vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) hatte das BVerfG einen Zinssatz von 6 % pro Jahr für Zinsen nach § 233a AO für verfassungswidrig erklärt. Der Gesetzgeber hat den entsprechenden Zinssatz für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 auf 1,8 % pro Jahr reduziert, § 238 Abs. 1a AO. Bei allen anderen Zinsarten wie beispielsweise AdV-Zinsen bleibt es nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers bei einem Zinssatz von 6 % pro Jahr. Das FG Münster hält in seinem Urteil v. 08.03.2023 (6 K 2094/22 E) AdV-Zinsen i.H.v. 6 % pro Jahr für verfassungskonform. Gegen dieses Urteil ist derzeit ein Revisionsverfahren beim BFH anhängig (VIII R 9/23). Betroffene Steuerpflichtige sollten gegen entsprechende Zinsbescheide Einspruch einlegen und ggf. ein Ruhen des Einspruchsverfahrens beantragen, um von einem möglichen positiven Ausgang des anhängigen Revisionsverfahrens zu profitieren. Die Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes könnte jedoch nur vom BVerfG ausgesprochen werden. Steuerpflichtige können auch einen Antrag auf Gewährung von AdV des Zinsbescheids erwägen.
 
4 Beteiligtenvernehmung als Beweismittel
Das FG ist gem. § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO zur Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen verpflichtet. Als Beweismittel kann es gem. § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO insbesondere Augenschein einnehmen, Zeugen und Sachverständige vernehmen, Urkunden heranziehen sowie die Beteiligten vernehmen. Verfahrensbeteiligte können entsprechende Beweisanträge stellen. Diese darf das Gericht nur ausnahmsweise ablehnen. Über einen solchen Beweisantrag auf Beteiligtenvernehmung und dessen (konkludente) Ablehnung durch das FG hat der BFH im Rahmen einer NZB entschieden (BFH, Beschl. v. 08.08.2023 – IX B 86/22). Grundsätzlich gilt, dass die Aufklärung des Sachverhalts mittels anderer Beweismittel der Beteiligtenvernehmung vorgeht. Dennoch darf auch ein solcher Beweisantrag nicht ohne Angabe von tragfähigen Gründen abgelehnt werden. Das FG muss darlegen, ob und wie es sich mit Hilfe anderer Beweismittel bereits eine Überzeugung bilden konnte oder warum von der Unrichtigkeit des Vorbringens durch den Beteiligten auszugehen ist. Andernfalls verstößt es gegen seine Pflicht zur ordnungsgemäßen Ermessensausübung. So lag der Fall hier. Die Ablehnung eines Beweisantrags ist gem. § 128 Abs. 2 FGO zwar nicht selbständig anfechtbar. Allerdings kann gegebenenfalls eine spätere Revision oder NZB darauf gestützt werden, dass durch die Ablehnung ein Verfahrensfehler begründet wurde. Sicherheitshalber sollte eine entsprechende Rüge bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem FG erfolgen.
 
 
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Dr. Thomas Streit, LL.M. Eur.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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Stand: 04.09.2023