Umsatzsteuer Newsletter 37/2021
EuGH: Vorsteuerabzug nur mit Rechnung – aber ohne Mindestpflichtangaben?
In seiner aktuellen Entscheidung v. 21.10.2021 – C-80/20, Wilo Salmson stellt der EuGH klar, dass der Steuerpflichtige eine Rechnung besitzen muss, um seinen Vorsteuer-Erstattungsanspruch geltend zu machen. Das Gericht macht aber ebenso deutlich, dass der Begriff der Rechnung sehr weit zu verstehen ist. Der EuGH distanziert sich, bewusst oder nicht, von den vom BFH (zuletzt im Urt. v. 12.03.2020 – V R 48/1) und vom BMF (Schreiben v. 18.09.2020) in Deutschland festgelegten Mindestpflichtangaben für die Annahme einer Rechnung, die den Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt.
1 Hintergrund
Der EuGH hatte sich bereits mehrfach mit der Bedeutung der Rechnung für den Vorsteuerabzug beschäftigt. In den Rs. Senatex (C-518/14) und Barlis (C-516/14) hat er die Anforderungen an eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung, insbesondere bei fehlerhaften oder fehlenden Angaben zu Gunsten des Steuerpflichtigen gelockert. In seiner nachfolgenden Entscheidung in der Rs. Vădan (C-664/16) klang durch, dass die Vorlage von Rechnungen für den Vorsteuerabzug nicht einmal zwingend erforderlich ist. In seiner aktuellen Entscheidung v. 21.10.2021 in der Rs. Wilo Salmson (C-80/20) gibt der EuGH nun weitere Einblicke in dieses Thema.
 
2 Sachverhalt und Vorlagefragen
Im Jahr 2012 kaufte die Klägerin mit Sitz in Frankreich Produktionsgeräte bei einer rumänischen Gesellschaft ein und erhielt dafür Rechnungen mit rumänischer Mehrwertsteuer. Die Klägerin beantragte die ihr in Rechnung gestellte Vorsteuer zwei Mal im Vorsteuervergütungsverfahren zur Erstattung. Beim ersten Mal wurde der Antrag abgelehnt, weil die eingereichten Belege nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprachen. Der zweite Antrag wurde abgelehnt, da die Vorsteuer den falschen Besteuerungszeitraum betraf und bereits einmal erfolglos zur Erstattung beantragt worden war. Zusammenfassend wurde der EuGH gefragt, welches der zutreffende Zeitpunkt für die Erstattung von Mehrwertsteuer an die Klägerin ist. 
 
3 Entscheidung
Der EuGH urteilte, dass der Vorsteuererstattungsanspruch immer für den Zeitpunkt geltend zu machen ist, in dem der Steuerpflichtige erstmals in Besitz einer Rechnung im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie gelangt. Diesbezüglich besteht kein Wahlrecht. Der Vorsteuerabzug kann auch nicht in einem späteren Besteuerungszeitraum vorgenommen werden, indem der Leistende eine (ordnungsgemäße) Rechnung storniert und über die Leistung erneut abrechnet, ohne hierzu einen sachlichen Grund zu besitzen. 
 
Der EuGH macht also für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts wohl den Besitz einer Rechnung zwingend erforderlich. So sagt der EuGH auch, dass die Erstattung von Vorsteuern aus einer Rechnung nicht verwehrt werden darf, wenn die Steuer in einem früheren Besteuerungszeitraum entstanden ist und lediglich die Rechnung später empfangen wurde. Der EuGH urteilte aber ebenso, dass ein Dokument nur dann keine solche Rechnung darstellt, wenn es so mangelhaft ist, dass der nationalen Steuerverwaltung die zur Begründung eines Erstattungsantrags erforderlichen Angaben fehlen. Das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer verlange, dass Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind. Dies gelte selbst dann, wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Anders verhalte es sich nur, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden.
 
4 Folgen für die Praxis
Der Erstattungsanspruch aus einer Eingangsleistung kann also immer und nur in der Periode geltend gemacht werden, in welcher der Steuerpflichtige erstmals in Besitz einer Rechnung gelangt. Die ausschlaggebende Frage für die Praxis bleibt allerdings weiterhin: wann ist ein Dokument so mangelhaft, dass es keine Rechnung mehr darstellt. Leider hat sich der EuGH dazu gar nicht geäußert. Gleichwohl hat der EuGH gerade nicht die (in Deutschland vom BFH festgelegten) Mindestpflichtangaben aus dem Schlussantrag der Generalanwältin in sein Urteil aufgenommen. Das könnte man durchaus so verstehen, dass es nach Auffassung des EuGH gerade keine Mindestpflichtangaben geben kann. Verfügt die Verwaltung über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass der Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer schuldet, darf sie keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug vereiteln können. Dies gilt auch, wenn eine oder mehrere Angaben in der Rechnung fehlen oder falsch sind, aber leicht errechnet oder ergänzt werden können. Es stellt sich so z. B. die Frage, ob der Vorsteuerabzug verwehrt werden darf, wenn aus der Rechnung hervorgeht, dass es sich um eine lokale Lieferung handelt, die Bemessungsgrundlage vorhanden ist, aber der Steuerbetrag fehlt. Diesen kann man leicht ausrechnen. 
 
Wichtig für die Praxis ist aber auch die Aussage des Gerichts, dass man sich durch Stornierung und Neuausstellung von Rechnungen ohne sachlichen Grund nicht die Periode der Vorsteuerabzugsberechtigung neu aussuchen kann. Steuerpflichtige dürfen es vor allem bei den fristbehafteten Vorsteuervergütungsanträgen nicht versäumen, alle Rechnungen dort rechtzeitig in der korrekten Periode geltend zu machen. Hier müsste man die Periode für die Belege einzeln prüfen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Angaben auf den Belegen nicht vollständig erscheinen. 
 
Unterm Strich darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich der EuGH in seinem aktuellen Urteil zum Besitz einer Rechnung im Vorsteuervergütungsverfahren geäußert hat. So könnte man auf der einen Seite argumentieren, dass diese Aussagen nicht direkt auf die Vorsteuerabzugsberechtigung im regulären Besteuerungsverfahren übertragbar sind, da sich der EuGH dabei teils auf andere Normen in der Mehrwertsteuerrichtlinie bezogen hat. Andererseits sind die formellen Voraussetzungen im besonderen Vorsteuervergütungsverfahren noch strenger als im regulären Besteuerungsverfahren. Wenn der EuGH den Rechnungsbegriff für das Vorsteuervergütungsverfahren so weit auslegt, dürfte die Entscheidung deshalb auch für das reguläre Besteuerungsverfahren relevant sein. 
 
Ansprechpartner:
 

Dr. Atanas Mateev
Dipl.-Wirtschaftsjurist (Univ.), Steuerberater
Tel.: +49 89 217501253
atanas.mateev@kmlz.de

Stand: 03.11.2021