Umsatzsteuer Newsletter 17/2022
MwStSystRL: Spielräume bei ermäßigten MwSt-Sätzen und Ortbestimmung bei virtuell erbrachten Leistungen
Am 06.04.2022 wurde die Mehrwertsteuersystem-Richtlinie im Hinblick auf die ermäßigten Steuersätze geändert. Deutschland erhält damit mehr Flexibilität und kann jetzt seine Ziele aus dem Koalitionsvertrag noch besser umsetzen. Die Reform ist von Zuckerbrot und Peitsche gekennzeichnet. Neue Spielräume werden eröffnet und Unliebsames abgeschafft.
1 Hintergrund
Nun ist es offiziell: Die MwStSystRL wurde im Hinblick auf die ermäßigten Steuersätze geändert. 30 Jahre lang hatte das bisherige Konzept gehalten. Vor 5 Jahren dann schlug die Europäische Kommission eine Reform vor. Seitdem wurde viel diskutiert. Es ist ein kleines Wunder, dass die Mitgliedstaaten nun zu diesem Kompromiss gefunden haben. Und der Kompromiss lässt sich durchaus sehen, wenn man bedenkt, dass die ermäßigten Steuersätze einer der letzten Gestaltungsspielräume sind, die den Mitgliedstaaten in der Umsatzsteuer noch zur Verfügung stehen.
 
Zukünftig erhalten die Mitgliedstaaten mit den neuen Vorschriften in einem vorgegebenen Rahmen mehr Flexibilität. Gleichzeitig wird eine Gleichbehandlung zwischen den EU-Mitgliedstaaten gewährleistet. Diese Aktualisierung bringt die Mehrwertsteuervorschriften mit den großen Zielen der EU – wie etwa der Eindämmung des Klimawandels, der Förderung der Digitalisierung und dem Schutz der öffentlichen Gesundheit – in Einklang. In diesem Zusammenhang werden auch die Vorschriften zur Leistungsortbestimmung an neue (digitale) Realitäten angepasst, da an Veranstaltungen zunehmend per Streaming oder auf andere Art virtuell teilgenommen werden kann.
 
2 Änderungen im Überblick
Überblicksartig lassen sich die Änderungen wie folgt zusammenfassen:
  • Das Verzeichnis der Gegenstände und Dienstleistungen (Anhang III der MwStSystRL) wird aktualisiert. 
  • Dem Verzeichnis neu hinzugefügt wurden unter anderem Gegenstände und Dienstleistungen, die dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dienen, umweltfreundlich sind und den digitalen Wandel begünstigen. 
  • Bis 2032 werden Ausnahmeregelungen abgeschafft, die nicht durch Gemeinwohlziele gerechtfertigt sind.
  • Ab 2030 können die Mitgliedstaaten auf Umsätze, die als schädlich für die Umwelt und die Klimaschutzziele der EU gelten, keine ermäßigten Steuersätze und Steuerbefreiungen mehr beanspruchen.
  • Ausnahmeregelungen und Befreiungen für bestimmte Umsätze, die derzeit aus historischen Gründen in bestimmten Mitgliedstaaten gelten, können künftig von allen Ländern angewandt werden, um für Gleichbehandlung zu sorgen und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. 
  • Neu ins Verzeichnis aufgenommen wurden folgende Gegenstände und Dienstleistungen: 
- digitale Dienstleistungen wie Internetzugang und Live-Streaming von Kultur- und Sportveranstaltungen;
- Gegenstände, die dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dienen, wie persönliche Schutzausrüstung und bestimmte medizinische Ausrüstung, sowie weitere Gegenstände, die als notwendige Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen gelten; 
- bestimmte Gegenstände wie Fahrräder, ökologische Heizsysteme und Solarpaneele, die in Privathaushalten und öffentlichen Gebäuden installiert werden und sich positiv auf die EU-Klimaschutzprioritäten auswirken können; 
- verschiedene Gegenstände und Dienstleistungen, die von den Mitgliedstaaten als geeignet und nützlich erachtet werden und generell Gemeinwohlzielen dienen.
  • Die Mitgliedstaaten haben künftig die Möglichkeit, zwei ermäßigte Steuersätze von mindestens 5 % auf Gegenstände und Dienstleistungen für bis zu 24 Kategorien aus Anhang III der MwStSystRL anzuwenden.
  • Außerdem können sie einen ermäßigten Satz von unter 5 % und eine Befreiung mit Vorsteuerabzug („Null-Satz“) auf max. 7 Kategorien des Verzeichnisses anwenden, die als zur Deckung der Grundbedürfnisse notwendig eingestuft werden, wie Nahrungsmittel, Arzneimittel oder pharmazeutische Erzeugnisse.
 
Neben den Änderungen zu den Steuersätzen gibt es auch eine wichtige Neuregelung beim Ort der Dienstleistungen. Der Richtliniengeber möchte zukünftig sicherstellen, dass das Bestimmungslandprinzip für sämtliche Dienstleistungen gilt, die elektronisch erbracht werden können. Aus diesem Grund werden die Art. 53 und 54 MwStSystRL bezüglich Eintrittsberechtigungen an Steuerpflichtige und Veranstaltungsleistungen an Nichtsteuerpflichtige angepasst. Leistungen, die per Streaming oder auf andere Weise virtuell verfügbar gemacht werden können, sollen dort steuerbar sein, wo der Empfänger ansässig ist. Die Mitgliedstaaten haben diese Änderung bis 31.12.2024 in nationales Recht umzusetzen.
 
3 Auswirkungen auf Deutschland
Jede Bundesregierung darf in ihrer Legislaturperiode etwas am ermäßigten Steuersatz „drehen“. In den letzten Jahren waren hiervon u.a. Beherbergungsleistungen, Restaurantleistungen oder auch Beförderungsleistungen auf der Schiene betroffen. Die Ampelkoalition wird von den neuen Spielräumen mit Sicherheit auch wieder Gebrauch machen. Dies gilt umso mehr, als durch die neuen Vorgaben aus Brüssel nun kein Gegenwind mehr von dort zu befürchten ist. Nach dem Koalitionsvertrag steht bislang nur fest, dass Inklusionsunternehmen beim ermäßigten Steuersatz bessergestellt werden sollen. Die Grundlage für diese Änderung bildet die neu geschaffene Tz. 15 des Anhangs III. 
 
Noch ist offen, in welchen Bereichen Deutschland den ermäßigten Steuersatz ausdehnen wird. Man darf gespannt sein, ob Deutschland die neue Chance nutzen und eine Steuerbefreiung mit Recht auf Vorsteuerabzug in das Umsatzsteuergesetz einführen wird. Jede Wette, dass eine solche Steuerbefreiung dann auf eine Dienstleistung im Bereich Green Deal entfallen würde. Doch bei aller Euphorie ob der neuen Chancen aus Brüssel darf nicht in Vergessenheit geraten, dass jeder ermäßigte Steuersatz in der Praxis zu Abgrenzungsproblemen und damit zu Steuerstreit führen wird. Dies sollte jedem Politiker eine eindrückliche Mahnung sein. Dass deshalb jedoch in Deutschland ermäßigte Steuersätze abgeschafft werden, steht wohl kaum zu befürchten. Denn dies wäre politischer Selbstmord. 
 
Ansprechpartner:
 
 
Prof. Dr. Thomas Küffner
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht,
Steuerberater, Wirtschaftsprüfer
Tel.: +49 89 217501230
 
Stand: 19.04.2022