Umsatzsteuer Newsletter 15/2020
Pulverfass umsatzsteuerrechtliche Organschaft: Der EuGH entscheidet über ein Milliarden-Haushaltsloch
Der BFH hat dem EuGH ein Verfahren vorgelegt, das alles Bisherige in den Schatten stellt. Er stellt die grundsätzliche Frage, ob das nationale Rechtskonstitut der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft überhaupt mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die Entscheidung des EuGH kann zur Folge haben, dass alle bisherigen Steuererklärungen von Organträgern falsch sind. Korrekturanträge wären innerhalb der Verjährungsfrist möglich. Ein Milliardenhaushaltsloch würde sich abzeichnen. Der BFH spricht sich klar für die Einführung einer Gruppenbesteuerung aus. Der Gesetzgeber wird nun rasch handeln müssen.
1 Problemstellung
Immer wieder fällt der EuGH Entscheidungen, die erhebliche Spuren im deutschen Haushalt hinterlassen. So hat die sog. „Seeling“-Rechtsprechung Anfang der Nuller-Jahre zu einem Milliardenloch geführt. Vor einigen Jahren haben viele Bauträger Kasse gemacht. In beiden Fällen hat der Gesetzgeber im Nachhinein reagiert und gesetzliche Änderungen beschlossen. Nun hat der BFH mit Beschluss vom 11.12.2019 (Az. BFH XI R 16/18) dem EuGH ein Verfahren vorgelegt, das alles Bisherige in den Schatten stellt. Es geht wohl um ein Steueraufkommen von über EUR 20 Mrd p.a.
 
2 Hintergrund
Schon seit Jahren schwelt ein Streit zu den Voraussetzungen der umsatzsteuerlichen Organschaft. Es besteht unter den Finanzgerichten keine Einigkeit darüber, wie die EuGH-Rechtsprechung in der Rs. Larentia + Minerva (C-109/14) zu verstehen ist. Jedes Gericht reklamiert für sich die Deutungshoheit. Erst kürzlich legte das FG Berlin-Brandenburg (Beschl. v. 21.11.2019, 5 K 5044/19) erneut dem EuGH die Frage vor, unter welchen Voraussetzungen Personengesellschaften als Organgesellschaften betrachtet werden können. Manch einer wird sich gedacht haben, ob diese Vorlage wirklich „notwendig“ war. Im Sinne aller Beteiligten wäre es sicher besser gewesen, diesen Streit national zu lösen. Denn häufig erhalten wir vom EuGH doch mehr „Steine statt Brot“. Und selbst diese Steine gelten auch immer nur für den vorgelegten Einzelfall. Mit dem neuen Vorlagebeschluss stellt der XI. Senat nun aber alles in den Schatten. 
 
3 Sachverhalt
Im Ausgangsverfahren bejahte das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht (Urt. v. 06.02.2018, 4 K 35/17) eine Organschaft zwischen einer GmbH als Organgesellschaft und der A als Organträgerin. Letztere hielt 51 % der Geschäftsanteile an der GmbH, während die C die restlichen 49 % hielt. Durch eine besondere Regelung im Gesellschaftsvertrag verfügte A trotz ihrer Eigenschaft als Mehrheitsgesellschafterin nicht über eine Stimmrechtsmehrheit. Das FG ging dennoch davon aus, dass allein die Mehrheitsbeteiligung die rechtssichere Bestimmung der A als Organträgerin erlaube, da die C als Minderheitsgesellschafterin von der Stellung als Organträger ausgeschlossen sei.
 
4 BFH stellt die „Gretchenfrage“
Der BFH hätte den Fall mit seinem nationalen Handwerkszeug entscheiden können. Er stellt nunmehr aber die Gretchenfrage an den EuGH: Er will vom EuGH ganz grundsätzlich wissen, ob das bisherige deutsche Verständnis, wonach der Organträger (und nicht der Organkreis) der Steuerpflichtige und damit Steuerschuldner ist, sich mit dem Unionsrecht vereinbaren lässt. Weiter fragt er den EuGH, ob (falls die erste Frage verneint wird) ein Einzelner sich auf das (insoweit dem deutschen Umsatzsteuerrecht entgegenstehende) Unionsrecht berufen kann.
 
Der EuGH muss damit eine grundsätzliche Entscheidung über die Fortgeltung des (bisherigen) deutschen Rechtsinstituts der Organschaft fällen. Die Entscheidung des EuGH kann zur Folge haben, dass alle bisherigen Steuererklärungen von Organträgern falsch sind. Korrekturanträge wären innerhalb der Verjährungsfrist möglich. Organträger würden jubeln. Der Staat wäre jedoch mit dramatisch hohen Steuernachforderungen konfrontiert. Ob er sich an den Organgesellschaften schadlos halten kann, ist mehr als fraglich. Denn er müsste die Steuern gegenüber der „Organschaft als Gruppe“ festsetzen. Diese ist aber nicht rechtsfähig. Die weiteren Vorlagefragen des BFH sind nicht minder interessant. So will der BFH vom EuGH zudem wissen, ob die nationale Voraussetzung einer finanziellen Eingliederung eher streng oder eher großzügig zu prüfen ist. Die vierte Vorlagefrage an den EuGH schließlich ist besonders für Konzerne relevant: Inwieweit muss der Organträger in der Lage sein, seinen Willen bei der Organgesellschaft durchzusetzen und dadurch eine abweichende Willensbildung zu verhindern? Die deutsche Sichtweise der Finanzverwaltung, die grundsätzlich eine Personenidentität der Geschäftsführungsorgane für erforderlich hält, wird damit in Frage gestellt. 
 
5 Folgen für die Praxis
Der XI. Senat hat die Gretchenfrage gestellt. Es liegt nun beim EuGH, sein Urteil zu fällen. Vielleicht ist es auch ein Hilferuf des XI. Senats an den deutschen Gesetzgeber. Zwischen den Zeilen wird mehr als deutlich, dass der XI. Senat eine Gruppenbesteuerung befürwortet. Diese lehnt der V. Senat wohl ab, worauf der XI. Senat in seinem Vorlagebeschluss auch hinweist. Denn der V. Senat hatte sich in seinem Urteil über die Bruchteilsgemeinschaft (Urt. v. 22.11.2018, V R 65/17) dezidiert gegen eine Mehrwertsteuerpflichtigkeit der nichtrechtsfähigen Bruchteilsgemeinschaft ausgesprochen. Damit wurde vom V. Senat indirekt auch die Einführung einer Gruppenbesteuerung abgelehnt. Der XI. Senat sieht dies anders und will sich für seine Auffassung nun Schützenhilfe vom EuGH holen. Damit wird unweigerlich wieder Bewegung in die nationale Diskussion zur Zukunft der Organschaft kommen. Bund und Länder arbeiten wohl schon seit Längerem an der ersatzweisen Einführung einer Gruppenbesteuerung, bei der sich verschiedene Unternehmen auf Antrag zu einer Gruppe zusammenschließen können. Der Wermutstropfen würde in der damit verbundenen gesamtschuldnerischen Haftung der Gruppe liegen (vgl. KMLZ Newsletter 37/2019). 
 
Der deutsche Gesetzgeber muss nun schleunigst seine Hausaufgaben machen. Es sollte zügig ein Gesetzgebungsverfahren über die europarechtskonforme Einführung der Gruppenbesteuerung starten, die von der Industrie mitgetragen wird. Der Gesetzgeber wird sich auch fragen müssen, wie er das drohende Haushaltsloch vermeiden will bzw. kann. Damit wird wieder eine Gesetzesinitiative aus NRW (BR-Drs. 310/18) hochinteressant, die eine gesetzliche Korrespondenzregelung für die Umsatzsteuer fordert, um systembedingte „Windfall Profits“ in der Umsatzsteuer auszuschließen. 
 
 
 
Ansprechpartner:
 
 
Prof. Dr. Thomas Küffner
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht,
Steuerberater, Wirtschaftsprüfer
Tel.: +49 89 217501230
 
Stand: 16.04.2020