Umsatzsteuer Newsletter 09/2021
Vorsteuerabzug aus innergemeinschaftlichen Erwerben und Dienstleistungen – gespannte Entspannung
Beim Vorsteuerabzug aus innergemeinschaftlichen Erwerben und Dienstleistungen sind deutsche Unternehmer entspannt. Das UStG stellt keine formellen Anforderungen an den Vorsteuerabzug. Im EU-Ausland ist dies oft anders. Es ist daher gefährlich, diese deutsche „Selbstverständlichkeit“ auf Sachverhalte im EU-Ausland zu übertragen. Verstöße haben schlimmstenfalls die Versagung des Vorsteuerabzugs zur Folge. Mit seinem Urteil vom 18.03.2021 (Rs. C-895/19) erklärt der EuGH nun eine im polnischen Recht enthaltene Voraussetzung für unionsrechtswidrig. Aber dies war nur eine Mine in einem ganzen Minenfeld.
1 Hintergrund
Beim Vorsteuerabzug aus innergemeinschaftlichen Erwerben und Dienstleistungen kann sich der deutsche Unternehmer entspannt zurücklehnen. Verwendet er diese Erwerbe und Dienstleistungen für Abzugsumsätze, darf er die geschuldete Steuer als Vorsteuer abziehen. Formelle Voraussetzungen gibt es keine. Nicht einmal eine Rechnung ist erforderlich (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 4 UStG, Abschn. 15.10 Abs. 1 UStAE). Gefährlich wird es aber, wenn dieses „Selbstverständnis“ auf andere EU-Mitgliedstaaten übertragen wird. Viele EU-Mitgliedstaaten stellen zusätzliche Anforderungen an den Vorsteuerabzug. Verstöße sind häufig sanktionsbewehrt. In Betracht kommen u. a. die Verzinsung der geschuldeten Steuer und schlimmstenfalls die Versagung des Vorsteuerabzugs. Am 18.03.2021 urteilte der EuGH über eine polnische Regelung (Rs. C-895/19).
 
2 Sachverhalt
Auch im polnischen Recht darf die Vorsteuer aus innergemeinschaftlichen Erwerben und Dienstleistungen im selben Meldezeitraum abgezogen werden, in dem auch die Steuer entstanden ist. Insoweit sind innergemeinschaftliche Erwerbe und Dienstleistungen steuerneutral. Dies galt bis 2016 auch für Nachmeldungen (vgl. Art. 86 Abs. 10 und 13a PTU a. F.). Seit 2017 gilt für Nachmeldungen jedoch eine Einschränkung. Während die geschuldete Steuer im Meldezeitraum der Steuerentstehung zu erfassen ist, ist dies beim Vorsteuerabzug nur bedingt möglich. Ein rückwirkender Vorsteuerabzug ist nur innerhalb von drei Monaten ab dem Meldezeitraum der Steuerentstehung zulässig. Ist diese Frist verstrichen, kann der Vorsteuerabzug nicht mehr rückwirkend, sondern nur noch für den aktuellen Meldezeitraum erfolgen (vgl. Art. 86 Abs. 10i PTU). Für den Meldezeitraum der Steuerentstehung ergibt sich ein Nachzahlungsbetrag, der der Verzinsung unterliegt. Ein polnischer Unternehmer (A) beantragte einen Steuervorbescheid (vergleichbar einer verbindlichen Auskunft). Die Regelung sei bei innergemeinschaftlichen Erwerben nicht anzuwenden, wenn die Nachmeldung auf verspätetem Rechnungseingang oder einem Irrtum des A beruhe. Die Finanzverwaltung verneinte die Auffassung des A. Das angerufene Gericht legte die Frage dem EuGH vor.
 
3 Entscheidung des EuGH
Der EuGH verneint die Vereinbarkeit der polnischen Regelung mit den Vorgaben der MwStSystRL. Er stützt sich hierbei auf zwei Gründe. Der erste Grund ist technischer Natur: Die Regelung verschiebt bei Nachmeldungen das Entstehen des Vorsteuerabzugsrechts (und nicht nur den Zeitpunkt der Ausübung). Eine solche Verschiebung sieht die MwStSystRL nicht vor (Rn. 45). Der zweite Grund ist die Pauschalität der Regelung. Die Verschiebung des Vorsteuerabzugs erfolge unabhängig von den Umständen des Einzelfalls. Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH dürfen rein formelle Verstöße den Vorsteuerabzug aber nicht per se einschränken (Rn. 46). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Finanzverwaltung alle relevanten Informationen zur Prüfung des Vorsteuerabzugs vorliegen. Etwas anderes gilt nur, wenn der formelle Verstoß den sicheren Nachweis der Voraussetzungen verhindert (Rn. 47). Der EuGH verweist aber explizit auf die Möglichkeit, formelle Verstöße anderweitig zu sanktionieren, etwa durch Bußgelder (Rn. 53).
 
4 Folgen für die Praxis
Das Urteil dürfte Breitenwirkung entfalten. (1) Obwohl es zum Vorsteuerabzug aus innergemeinschaftlichen Er-werben ergangen ist, dürfte es auch für innergemeinschaftliche Dienstleistungen gelten. (2) Auch nichtpolnische Unternehmer dürften von dem Urteil profitieren. Polen ist aufgrund der niedrigeren Lohnkosten ein Zentrum der Lohnbearbeitung. Viele Unternehmer haben in Polen innergemeinschaftliche Erwerbe, weil sie sich Vorprodukte nach Polen liefern lassen oder zur Bearbeitung nach Polen verbringen. Gleiches gilt für Onlinehändler, die die Versandlogistik über Polen abwickeln oder abwickeln lassen. (3) Schließlich haben auch andere EU-Mitgliedstaaten vergleichbare oder sogar strengere Regelungen.
 
Es ist offen, wie der polnische Gesetzgeber reagieren wird. Er muss die Regelung nicht streichen, sondern könnte auch eine Einzelfallklausel einfügen. Zudem könnte er die Anregung des EuGH aufnehmen und Verstöße anderweitig sanktionieren. Gleiches gilt für die Regelungen in anderen EU-Mitgliedstaaten. Auch wenn diese den Vorgaben der MwStSystRL und des EuGH widersprechen, treten sie nicht automatisch außer Kraft. Betroffene Unternehmer müssten ihre Rechte im Zweifel also erst (gerichtlich) durchsetzen, Rechtsverfolgungskosten und das Risiko des Unterliegens eingeschlossen.
 
Ob Unternehmer, die in Polen oder anderen EU-Mitgliedstaaten mit der Problematik konfrontiert sind, von dem Urteil profitieren können, richtet sich nach dem Einzelfall. Maßgeblich sind der Verfahrensstand, der betroffene Betrag und die weiteren Umstände, wie die Vorwerfbarkeit einer etwaigen Pflichtverletzung. Das Blatt dürfte sich gebessert haben, aber es muss auch gut gespielt werden.
 
Im Übrigen sollten Unternehmer die zutreffende Erfassung von innergemeinschaftlichen Erwerben und Dienst-leistungen nicht vernachlässigen. Dies gilt sowohl im Inland, vor allem aber auch, soweit sie im Ausland tätig werden. Keinesfalls sollten sie der Illusion unterliegen, dass bei innergemeinschaftlichen Erwerben und Reverse-Charge kein finanzielles Risiko bestehe, weil geschuldete Steuer und Vorsteuer sich ausgleichen. Das Gegenteil ist der Fall, auch wenn der EuGH mit seinem Urteil die Risiken in Polen zunächst mindert.
 
Ansprechpartner:
 
 
Jörg Scharrer
Rechtsanwalt, Dipl.-Kfm
+49 (0) 89 217 50 1233
 
Stand: 23.03.2021