Umsatzsteuer Newsletter 05/2022
EuGH: Vorsteuerabzug für Leistungen von Ist-Versteuerern erst mit Zahlung
Nach dem Unionsrecht entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug gleichzeitig mit dem Anspruch auf die abziehbare Umsatzsteuer. Dies bestätigt der EuGH mit seinem jüngsten Urteil auch für den Fall, dass die Umsatzsteuer aufgrund der Ist-Versteuerung des Leistenden erst mit Vereinnahmung der Zahlung entsteht. Der Leistungsempfänger kann den Vorsteuerabzug dann erst im Zeitpunkt der Zahlung vornehmen. Dies gilt für alle Leistungsempfänger, unabhängig von einer Ist- oder Soll-Versteuerung. Insoweit sind das deutsche Gesetz und die derzeitige Auffassung der Finanzverwaltung unionsrechtswidrig.
1 Hintergrund
Zu welchem Zeitpunkt das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, regelt das deutsche UStG nicht in der Klarheit und Detailtiefe, die § 13 UStG für die Entstehung der Steuer auf Ausgangsumsätze vorsieht. In der Rs. C-9/20 (Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, EuGH, Urt. v. 10.02.2022) äußert sich der EuGH nun zum Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs in Fällen, in denen der Leistende der Ist-Besteuerung nach § 20 UStG unterliegt. Dieses Urteil kann für alle Unternehmer relevant sein. Wie der Leistende seine Umsatzsteuer berechnet, ist für die Leistungsempfänger (derzeit) regelmäßig nicht erkennbar. 
 
2 Sachverhalt
Die Klägerin (Kl.) erzielt steuerpflichtige Umsätze aus der Vermietung eines Grundstücks, das sie ihrerseits steuerpflichtig angemietet hat. Mit dem Mietvertrag verfügte die Kl. über eine ordnungsgemäße Rechnung. Die Vermieterin berechnet die Umsatzsteuer – wie die Kl. – gemäß § 20 UStG nach vereinnahmten Entgelten (Ist-Versteuerer). 
 
Aufgrund einer teilweisen Stundung leistete die Kl. in den Jahren 2013 bis 2016 noch Mietzahlungen für die Jahre 2009 bis 2012. Den Vorsteuerabzug aus diesen Zahlungen machte die Kl. jeweils – unabhängig vom betroffenen Mietzeitraum – im Voranmeldungszeitraum der Zahlung geltend. Das Finanzamt beanstandete dieses Vorgehen. Seiner Auffassung nach hätte der Vorsteuerabzug im Zeitpunkt der Ausführung der Umsätze vorgenommen werden müssen. Diese Jahre waren jedoch teilweise verjährt.
 
Das Finanzgericht Hamburg erachtete diese Auffassung des Finanzamts nach nationalem Recht als zutreffend. Gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG entstehe das Recht zum Vorsteuerabzug, wenn die Leistung ausgeführt worden ist. Wann der Steueranspruch gegen den Leistenden entsteht und ob dieser die Steuer nach vereinbarten oder nach vereinnahmten Entgelten berechnet, sei danach unerheblich. Allerdings hatte das Finanzgericht Zweifel, ob das nationale Recht insoweit mit der MwStSystRL vereinbar ist, und legte diese Frage daher dem EuGH vor.
 
3 Entscheidung des EuGH
Der EuGH stellt eindeutig fest, dass der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers gemäß Art. 167 MwStSystRL dann entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Umsatzsteuer entsteht. Dies ist im vorliegenden Fall aufgrund der Ist-Versteuerung des Leistenden der Zeitpunkt der Zahlung. Das deutsche UStG wäre in der Lesart des Finanzgerichts insoweit unionsrechtswidrig. Der EuGH betont, dass der Unionsgesetzgeber den Zeitpunkt der Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts gerade an die – durch die Ist-Versteuerung veränderliche – Entstehung des Steueranspruchs geknüpft hat, nicht hingegen an die Leistungsausführung. 
 
Die vom Finanzgericht angeführte Überlegung, dass Art. 167 MwStSystRL nicht als strikte Vorgabe, sondern lediglich als „Leitidee“ zu verstehen sei, von der abgewichen werden könne, verneint der EuGH klipp und klar. Auch eine Auswirkung des Art. 167a MwStSystRL auf die Vorlagefrage lehnt der EuGH ab. Nach dieser Regelung dürfte der deutsche Gesetzgeber vorsehen, dass Ist-Versteuerer (in der Rolle als Leistungsempfänger) ihr Vorsteuerabzugsrecht erst mit Zahlung ausüben können. Nur in diesen Fällen wäre der zeitliche Zusammenhang zwischen Vorsteuerabzug und Steueranspruch aufgehoben. Von dieser Ermächtigung hat der deutsche Gesetzgeber jedoch keinen Gebrauch gemacht. 
 
4 Praxisfolgen
Das Urteil kann für alle Unternehmer von Bedeutung sein. Es betrifft nicht Ist-Versteuerer, sondern ihre Leistungsempfänger. Zwar unterlag im Streitfall auch die Kl. als Leistungsempfänger der Ist-Versteuerung. Dies war für die Entscheidung des EuGH jedoch nicht maßgeblich. Relevant ist allein die Ist-Versteuerung des Leistenden.
 
Nach derzeitiger Auffassung der Finanzverwaltung entsteht das Vorsteuerabzugsrecht unabhängig von der Besteuerung des Leistenden im Zeitpunkt des Leistungsbezugs (Abschn. 15.2 Abs. 2 UStAE). Wesentlich sind die Leistungsausführung und der Empfang der Rechnung. Auf die Zahlung kommt es (sofern keine Anzahlung vorliegt) nicht an. Soweit der Leistende Ist-Versteuerer ist, verstößt diese Auffassung gegen Unionsrecht. Unionsrechtlich hat der Vorsteuerabzug mit Zahlung zu erfolgen. Bis zu einer Änderung von Gesetz oder Finanzverwaltungsauffassung können Unternehmer jedoch auf die Regelung des UStAE vertrauen. Der durch den Vorfinanzierungseffekt unternehmerfreundliche Vorsteuerabzug mit Leistungsausführung wäre also zunächst noch möglich. Unternehmer sollten allerdings prüfen, ob sich aus dem Urteil Vorteile für sie ergeben können. Wurde z. B. in einem bereits verjährten Zeitraum der Vorsteuerabzug vergessen, kann dieser möglicherweise noch vorgenommen werden. Entscheidend ist, dass der Leistende als Ist-Versteuerer nach § 20 UStG gilt. 
 
Für die Zukunft bleibt abzuwarten, wann Finanzverwaltung und Gesetzgeber welche Konsequenz ziehen. Damit eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Anpassung der bestehenden Regelungen praktisch anwendbar ist, braucht es zwingend auch die von Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL vorgesehene Hinweispflicht auf die Ist-Versteuerung des Leistenden in Rechnungen. Nur so wären Leistungsempfänger überhaupt in der Lage, den Leistenden als Ist-Versteuerer zu identizifieren und den zutreffenden Zeitpunkt für ihren Vorsteuerabzug zu bestimmen. Unternehmer müssten bei der Vornahme ihres Vorsteuerabzugs dann nach der Besteuerung des Leistenden differenzieren.
 
Ansprechpartner:
 

Laura Klein
Steuerberaterin, Master of Science (M.Sc.)
(Rechts- und Wirtschaftswissenschaften)
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Stand: 14.02.2022