Umsatzsteuer Newsletter 03/2022
Die deutsche Organschaft wankt … – aber fällt sie auch?
Aktuell sind beim EuGH zwei Verfahren anhängig, in welchen er zu Aspekten der deutschen umsatzsteuerrechtlichen Organschaft Stellung nehmen soll. In beiden Verfahren geht es im Kern um die Frage, ob der Organträger – wie es das deutsche Recht vorsieht – der Unternehmer und damit der Steuerschuldner sein darf. In ihren aktuellen Schlussanträgen zu den Verfahren geht die Generalanwältin am EuGH davon aus, dass das deutsche Recht in dem genannten Punkt unionsrechtswidrig ist. Doch damit nicht genug: Sie sieht (entgegen der bisherigen einhelligen Auffassung) scheinbar Innenumsätze innerhalb der Organschaft als steuerbar an.
1 Hintergrund
Die deutsche umsatzsteuerrechtliche Organschaft war in den letzten Jahren ein „Dauerbrenner“ beim EuGH. So entschied der EuGH gleich zweimal, dass auch eine Personengesellschaft Organgesellschaft sein kann. Aktuell sind beim EuGH wieder zwei Verfahren zur deutschen Organschaft anhängig. Im Kern geht es aber um nur eine Frage: Wer ist der Steuerpflichtige im Fall einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft? Ist es der Organträger selbst (so das deutsche Gesetz und der V. Senat in seiner Vorlageentscheidung, vgl. KMLZ Newsletter 26 | 2020)? Oder ist der Steuerpflichtige vielmehr der Organkreis als solcher (so der XI. Senat in seiner Vorlageentscheidung, vgl. KMLZ Newsletter 15 | 2020)? Diese „zwei diametral entgegengesetzten Auslegungen“ durch die beiden BFH-Senate zeigen, dass „echter Bedarf besteht, dass der Gerichtshof Orientierungshilfen“ gibt. So die Generalanwältin Medina zur Begründung der Zulässigkeit der Vorlage in ihren zwei Schlussanträgen zu den beiden Verfahren, die nunmehr vorliegen.
 
2 Der erste Schlussantrag der Generalanwältin Medina
In ihrem am 13.01.2022 veröffentlichten Schlussantrag zur Vorlage des XI. Senats vergleicht die Generalanwältin zunächst die Sprachfassung der unionsrechtlichen Regelung mit derjenigen im deutschen Recht. Sie stellt dabei erhebliche Unterschiede fest. Die Generalanwältin kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Regelung offensichtlich zu restriktiv sei. Sie verweist insoweit auch auf die Entscheidung des EuGH, wonach Personengesellschaften durch den BFH zu umfassend als Organgesellschaften ausgeschlossen wurden (vgl. KMLZ Newsletter 14 | 2021). 
 
Einen weiteren, ganz grundlegenden Unterschied sieht die Generalanwältin darin, dass nach der unionsrechtlichen Regelung jedes Mitglied der Mehrwertsteuergruppe selbständiger Steuerpflichtiger bleibe. Demnach seien zwischen den Gruppenmitgliedern scheinbar steuerpflichtige Umsätze möglich. Es werde mit der Mehrwertsteuergruppe ein weiterer Steuerpflichtiger geschaffen, der (als fiktive Einrichtung) die Umsatzsteuer schuldet, wobei im Außenverhältnis ein Ansprechpartner die Steuererklärung abgeben und die Umsatzsteuer entrichten müsse. Anders ist dies bekanntlich im deutschen Recht. Hier sind steuerbare Umsätze zwischen den Mitgliedern einer Organschaft mangels Selbständigkeit nicht möglich. Steuerpflichtiger ist zwingend der Organträger. (Hierzu ist aber anzumerken, dass der EuGH bisher in ständiger Rechtsprechung steuerbare Umsätze zwischen den Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe als nicht möglich ansah.)
 
Schließlich legt die Generalanwältin dar, dass es im Unionsrecht, im Unterschied zum deutschen Recht, keine Regelung gebe, die es dem „Organträger“ vorbehält, der Steuerpflichtige zu sein. Deutschland habe insoweit keine konkreten Gründe vorgetragen, weswegen dies zur Verhinderung eines Missbrauchs erforderlich sein soll. Daher soll der EuGH feststellen, dass das deutsche Recht im Widerspruch zum Unionsrecht nur das beherrschende Gruppenmitglied, nicht aber die übrigen Gruppenmitglieder als Vertreter der Gruppe und als Steuerpflichtigen der Gruppe bestimmt.
 
3 Der zweite Schlussantrag der Generalanwältin Medina
Im Schlussantrag zur Vorlage des V. Senats fasst die Generalanwältin zunächst ihre Ausführungen im vorhergehenden Schlussantrag zusammen. Anschließend geht sie noch auf die Besonderheiten ein, die sich daraus ergeben, dass die „Organträgerin“ im konkreten Fall eine juristische Person des öffentlichen Rechts mit einem unternehmerischen und einem nichtunternehmerischen Bereich war. Die vorgeschlagene Antwort der Generalanwältin ist ähnlich derjenigen in ihrem parallelen Schlussantrag. 
 
4 Praxisfolgen
Festzuhalten ist, dass es sich „nur“ um Schlussanträge und nicht um ein Urteil des EuGH handelt. Der EuGH selbst kann vollständig anders entscheiden. Oftmals folgt der EuGH zwar der Auffassung des Generalanwalts. Hier weicht die Generalanwältin aber an entscheidender Stelle der Argumentation scheinbar von der bisherigen Auffassung des EuGH ab. 
 
Sollte der EuGH trotzdem ähnlich der Auffassung der Generalanwältin entscheiden, müsste wiederum der BFH darüber befinden, welche Folgen sich daraus für Deutschland ergeben. Es ist kaum vorstellbar, dass der BFH – trotz entsprechender Befürchtungen des V. Senats in seinem Vorlagebeschluss – tatsächlich alle angegriffenen Steuerfestsetzungen gegen Organträger der vergangenen Jahre aufhebt. Es wird sich entweder eine „kreative Lösung“ über die Abgabenordnung finden lassen oder der Gesetzgeber greift erneut ein (ähnlich, wie er es bei den Bauträgern tat). Trotzdem müssen Steuerpflichtige aktuell entscheiden, ob sie Steuerfestsetzungen gegen einen Organträger für die Vergangenheit mit einem Einspruch oder Änderungsantrag offenhalten. Hierfür spricht zumindest, dass Einspruch wie Änderungsantrag schnell erhoben / gestellt sind, beides keine Gebühr nach sich zieht und die verantwortlichen Personen sich später jedenfalls nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, fahrlässig Steuervorteile nicht realisiert zu haben.
 
Völlig unabhängig vom Vorgehen des Einzelnen: Die Generalanwältin lässt das Argument eines möglichen Steuerausfalls nicht gelten. Sie weist ausdrücklich auf die seit Jahren gegebenen vielen kritischen Stimmen in der Rechtsprechung und der Literatur hin. Deutschland hatte genügend Zeit, die Probleme zu beheben. Deutschland kann nicht erst untätig bleiben und dann argumentieren, man verlöre Steuer, wenn durch den EuGH „falsch“ entschieden wird. Die Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur „Reform der umsatzsteuerlichen Organschaft“ gehen laut Generalanwältin in die richtige Richtung. Dem kann man sich nur anschließen. Deutschland sollte die angedachte Reform der Organschaft (insbesondere ein Antragsverfahren) endlich umsetzen. 
 

Ansprechpartner:

Dr. Michael Rust
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
Tel.: +49 89 217501274
michael.rust@kmlz.de

Stand: 02.02.2022