Umsatzsteuer Newsletter 18/2023
Unternehmereigenschaft bei defizitären Tätigkeiten steht auf dem Spiel
Der EuGH kommt in zwei Urteilen vom 30.03.2023 zu dem Ergebnis, dass die öffentliche Hand bei Ausübung von defizitären Tätigkeiten nicht als „Unternehmer“ handelt. In diesem Fall kann die Besteuerung von Umsätzen unterbleiben. Die Kehrseite der Medaille aber ist die Versagung des Vorsteuerabzugs. Viele Kommunen profitieren heute von einer tendenziell großzügigen Behandlung in Form der Gewährung von Vorsteuerüberhängen. Diese Praxis könnte beendet sein, wenn der BFH die neue Linie des EuGH in seine Rechtsprechung übernimmt.
1 Hintergrund
Gilt eine juristische Person des öffentlichen Rechts bei einer defizitären Tätigkeit als „Steuerpflichtiger“? Diese Frage hat sowohl für die Steuerpflicht des Ausgangsumsatzes als auch für die Frage des Vorsteuerabzugs aus den Eingangsleistungen Bedeutung. Der EuGH hat dazu in zwei aktuellen Entscheidungen Stellung genommen. Denn nur wenn man das Merkmal der Unternehmereigenschaft bejaht, besteht das Recht auf Vorsteuerabzug. 
 
Defizitäres Handeln kann sich daraus ergeben, dass von dritter Seite Zuschüsse gezahlt werden und/oder ein Entgelt unter dem Marktpreis zu entrichten ist. Dieses Phänomen tritt bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts sehr häufig auf, da sie in vielen Bereichen Zuschüsse erhalten. Zudem werden häufig aus sozialpolitischen Erwägungen keine kostendeckenden Entgelte erhoben. In der kommunalen Selbstverwaltung gilt zwar grundsätzlich das Prinzip der Kostendeckung. Davon kann aber abgewichen werden, wenn die Maßnahme dem Wohl aller Bürger dient. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Gemeinden insbesondere in den Bereichen Kultur, Verkehr und Sport teilweise mit Kostendeckungsgraden unter 10 % operieren. 
 
2 Entscheidung des EuGH in der Rs. Gmina O. (Urt. v. 30.03.2023, C-612/21)
In diesem Streitfall wollte eine polnische Gemeinde erreichen, dass sie nicht als Unternehmer gilt. Ihre Umsätze sollten nicht der Besteuerung unterliegen. Die Gemeinde hatte PV-Anlagen an Grundstückseigentümer überlassen und dafür nur 25 % der förderfähigen Kosten erhoben. Dies war möglich, da die Gemeinde 75 % der förderfähigen Kosten durch einen Zuschuss von dritter Seite erhalten hatte und den Rest in Form der nicht förderfähigen Kosten selbst übernahm. 
 
Der EuGH bejaht im Ergebnis den Leistungsaustausch, da die Höhe des Preises bei einem Leistungsaustausch nicht relevant ist. Unsicher ist der EuGH hingegen bei der Frage, ob die Gemeinde eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ ausgeübt hat, so dass die Unternehmereigenschaft zu bejahen wäre. Nach einer Gesamtabwägung der Umstände des Einzelfalls gelangt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Gemeinde nicht nachhaltig gehandelt hat (einmalige Leistung an Grundstückseigentümer) und zudem ihre Leistungen weit unter dem Marktpreis (zu lediglich 25 % der förderfähigen Selbstkosten) verkauft hat. Im Rahmen eines Fremdvergleichs gelangt der EuGH schließlich zu der Auffassung, dass ein privater Dritter so nicht gehandelt hätte. Die Unternehmereigenschaft wurde also im Ergebnis verneint. 
 
3 Entscheidung des EuGH in der Rs. Gmina L. (Urt. v. 30.03.2023, C-616/21)
Der zweite Fall lag ähnlich: Hier ging es um die Frage, ob eine polnische Gemeinde als Unternehmer tätig geworden ist. Der EuGH verneint dies mit dem Hinweis, dass die Gemeinde ihre Leistungen der Asbestbeseitigung gegenüber den Grundstückseigentümern kostenlos erbrachte. Dies war möglich, da die Gemeinde im Nachgang mit Zuschüssen eines Umweltfonds in Höhe von 40 % bis 100 % rechnete. 
 
Der EuGH tendiert auch hier zu einem Leistungsaustausch, da auch in den Zuschüssen ein Entgelt gesehen werden könne. Eine wirtschaftliche und damit unternehmerische Tätigkeit läge aber nicht vor. Die Gemeinde habe nicht nachhaltig gehandelt. Sie habe sich nicht bemüht, durch ihre Preise die Kosten zu decken und eine Gewinnspanne zu erzielen. Vielmehr habe man gehofft, über spätere Zuschüsse die strukturell defizitäre Lage auszugleichen. 
 
4 Auswirkungen auf die Praxis
Defizitäre Tätigkeiten der öffentlichen Hand können dazu führen, dass die Unternehmereigenschaft verneint wird. Das hat den Vorteil, dass eine Besteuerung der Ausgangsseite unterbleiben kann. Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass auch kein Vorsteuerabzug mehr möglich ist. Eine „Quersubventionierung“ über Vorsteuerüberhänge würde damit ausbleiben. Die Gemeinden müssten deshalb bisherige Vorsteuerüberhänge aus ihrem eigenen Haushalt finanzieren oder einen Ausgleich durch Bund bzw. Länder suchen. 
 
Der BFH hat bei defizitärem Handeln bisher die Marktüblichkeit und damit eine wirtschaftliche Tätigkeit bejaht (vgl. BFH, Urt. v. 28.06.2017, XI R 12/15: dauerdefizitäre Sporthallenüberlassung). Etwas anderes gilt nur bei symbolischen Entgelten (BFH, Urt. v. 22.06.2022, XI R 35/19: Verneinung Leistungsaustausch bei Mietentgelt i.H.v. 1 EUR, KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 45 | 2022) oder wenn eine Asymmetrie zwischen den Betriebskosten und den Einnahmen besteht (BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 44/15: Vermietung Sportzentrum, KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 08 | 2017). Es steht zu befürchten, dass der BFH im nächsten Fall diese bisher tendenziell großzügige Rechtsprechung korrigieren wird. 
 
Gleichwohl: die beiden EuGH-Entscheidungen sind auf Grundlage einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls ergangen. In beiden Fällen lagen keine wiederkehrenden Tätigkeiten der Gemeinden vor, was der EuGH jeweils zunächst betont hat. Außerdem war im jeweiligen Zeitpunkt des Ausgangsumsatzes nicht klar, ob bzw. in welcher Höhe Zuschüsse fließen würden. Es wird daher ganz genau darauf ankommen, wie sich der konkrete Sachverhalt im Ganzen darstellt. 
 
Die Finanzverwaltung zeigt sich bislang großzügig. Gemeinden und andere Körperschaften des öffentlichen Rechts tun also gut daran, den Bogen nicht zu überspannen und „auf Teufel komm raus“ den Fiskus in Form von Vorsteuerüberhängen an Finanzierungen zu beteiligen. Klageverfahren verbieten sich in diesem Bereich. Vielmehr besteht das Gebot, frühzeitig für Rechtssicherheit in Form der Einholung von verbindlichen Auskünften zu sorgen. 

 
Ansprechpartner:
 
 
Prof. Dr. Thomas Küffner
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht,
Steuerberater, Wirtschaftsprüfer
Tel.: +49 89 217501230
 
Stand: 14.04.2023