Umsatzsteuer Newsletter 52/2022
VAT in the Digital Age (Teil 1): Neue fiktive Leistungsketten bei Online-Plattformen und Online-Marktplätzen
Die Europäische Kommission hat am 08.12.2022 einen Richtlinienentwurf für die Initiative „VAT in the Digital Age“ veröffentlicht. Die Änderungen betreffen die Behandlung der Plattformwirtschaft, die Mehrwertsteuermeldepflichten und elektronische Rechnungsstellung sowie die einheitliche EU-Mehrwertsteuerregistrierung. In einer kleinen Serie von Newslettern werden wir über die nächsten drei Tage die sich aus dem Richtlinienentwurf ergebenen Änderungen erläutern. In diesem Newsletter geben wir einen Überblick über die neue fiktive Leistungskette bei der kurzfristige Unterkunftsvermietung und Personenbeförderung sowie die Ausweitung der Lieferkettenfiktion für Online-Marktplätze.
1 Hintergrund
Der Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission für die Initiative „VAT in the Digital Age“ enthält Vorschläge zur umsatzsteuerlichen Behandlung der Plattformwirtschaft. Diese Vorschriften sollen zum einen den Umsatzsteuerbetrug bekämpfen und zum anderen eine Gleichbehandlung der Plattformwirtschaft mit traditionellen Anbietern sicherstellen. Der Richtlinienentwurf sieht vor, das Modell der fiktiven Leistungskette auf sämtliche Lieferungen innerhalb der EU über Online-Marktplätze auszuweiten. Außerdem soll es für die Dienstleistungsbereiche der kurzfristigen Unterkunftsvermietung und Personenbeförderung gelten. Die Änderungen in der MwStSystRL sollen zum 01.01.2025 in Kraft treten.
 
2 Ausweitung der Lieferkettenfiktion bei Online-Marktplätzen
Eine fiktive Leistungskette ist bei Online-Plattformen nicht neu. Bereits zum 01.07.2021 führte der nationale Gesetzgeber eine Lieferkettenfiktion für Online-Marktplätze ein. Durch § 3 Abs. 3a UStG (Art. 14a MwStSystRL) wird in bestimmten Fällen mit Drittlandbezug (Onlinehändler im Drittland ansässig oder Einfuhr von Waren mit Sachwert von höchstens EUR 150) ein Reihengeschäft zwischen Onlinehändler, Online-Marktplatz und Kunde fingiert (vgl. KMLZ Umsatzsteuer Newsletter 33 | 2020). Dieses Modell hat sich in der Praxis bewährt. Daher soll die Lieferkettenfiktion nach Art. 14a Abs. 2 und 3 MwStSystRL-E für sämtliche Lieferungen innerhalb der EU und auf innergemeinschaftliches Verbringen über Online-Marktplätze angewandt werden. Die Lieferung des Online-Marktplatzes an den Kunden unterliegt der regulären Besteuerung. Die Lieferung des Onlinehändlers an den Online-Marktplatz ist steuerfrei (Art. 136a MwStSystRL-E). In dem Sonderfall, dass der Online-Marktplatz lediglich in einem Mitgliedstaat ansässig ist und nur lokale Lieferungen innerhalb dieses Mitgliedstaates unterstützt, soll die Lieferkettenfiktion keine Anwendung finden (Art. 14a Abs. 4 MwStSystRL-E).
 
3 Leistungskette bei kurzfristiger Unterkunftsvermietung und Personenbeförderung
Aufgrund der enormen Reichweite konkurrieren die Beherbergungsplattformen mit dem Hotelgewerbe und die Personenbeförderungsplattformen mit Taxiunternehmen. Im Gegensatz zu traditionellen Anbietern können Pri-vatpersonen und kleine Unternehmen ihre Vermietungs- oder Personenbeförderungsleistungen aktuell über Plattformen anbieten, ohne dass Umsatzsteuer anfällt. Eine fiktive Leistungskette soll dem entgegenwirken. Elektronische Schnittstellen, die die kurzfristige Unterkunftsvermietung oder Personenbeförderung unterstützen, werden zukünftig so behandelt, als hätten sie selbst diese Leistungen empfangen und erbracht (Art. 28a MwSt-SystRL-E). Der Begriff der „elektronischen Schnittstelle“ ist sehr weit zu verstehen. In den Anwendungsbereich fallen nicht nur Plattformen oder Portale, sondern auch alle anderen vergleichbaren elektronischen Mittel. Als „kurzfristige Unterkunftsvermietung“ gilt die ununterbrochene Vermietung der Unterkunft für max. 45 Tage (Art. 135 Abs. 3 MwStSystRL-E). Die Leistungskette knüpft an die Eigenschaft des Vermieters / Fahrers an. Sie wird insbesondere dann fingiert, wenn der Vermieter / Fahrer eine Privatperson oder ein Kleinunternehmer ist (Art. 28a Buchst. a–f MwStSystRL-E). Die Leistung der elektronischen Schnittstelle an den Kunden unterliegt der regulären Besteuerung. Die kurzfristige Unterkunftsvermietung unterliegt nicht der Margenbesteuerung (Art. 306 Abs. 3 MwStSystRL-E). Die Leistung des Vermieters / Fahrers an die elektronische Schnittstelle ist steuerfrei (Art. 136b MwStSystRL-E).
 
              
 
4 Praxisfolgen
Durch die fiktive Leistungskette werden die Leistungen, die zuvor nicht der Umsatzsteuer unterlegen haben, nun steuerpflichtig. Dies ist politisch motiviert und wird dem Geschäftsmodell schaden. Naturgemäß wird die Umsatzsteuer auf die Kunden abgewälzt, so dass die Leistung für die Kunden teurer wird. Betroffene Plattformen müssen die Eigenschaft des Vermieters / Fahrers überprüfen und die Frage beantworten, ob tatsächlich ein „Unterstützen“ vorliegt. Dafür geben Art. 9b–9d EU-VO 282/2011-E wichtige Hinweise. Jedoch sind Abgrenzungsfragen vorprogrammiert. Da die Plattformen zum Steuerschuldner werden, sind Anpassungen in der Steuerfindung und im Buchhaltungs-/ERP-System notwendig. 
 
Dagegen dürfen sich Online-Marktplätze freuen, die ihre Systeme bereits zum 01.07.2021 auf die Lieferkettenfiktion umgestellt haben. Online-Marktplätze, die bisher auf Fälle mit Drittlandbezug verzichtet haben, müssen nun ihre Systeme entsprechend anpassen. Dass dann sämtliche Lieferungen innerhalb der EU und innergemeinschaftliche Verbringen über den Online-Marktplatz der Lieferkettenfiktion unterfallen sollen, stellt für die Online-Marktplätze eine Erleichterung dar. Denn damit wird die in der Praxis sehr aufwändige Abgrenzung entfallen, ob ein Fall der Lieferkettenfiktion oder eine Steuerschuld des Onlinehändlers vorliegt. Da sich die umsatzsteuerrechtliche Behandlung in beiden Alternativen stark unterscheidet, führen Abgrenzungsfehler derzeit zu erheblichen Risiken für Online-Marktplätze. Diese Risiken wird es künftig nicht mehr geben. Zudem kommt eine Marktplatzhaftung nach §§ 22f Abs. 1, 25e UStG nur bei einer Steuerschuld des Onlinehändlers in Betracht. Eine Steuerschuld des Onlinehändlers ist zukünftig jedoch im Regelfall nicht mehr vorgesehen. Damit läutet der Richtli-nienentwurf das Ende der in der Praxis umstrittenen nationalen Regelungen zur Marktplatzhaftung nach §§ 22f Abs. 1, 25e UStG ein.
 
Ansprechpartner:
 

Dr. Matthias Oldiges
Rechtsanwalt
Tel.: +49 211 54 095 366
 
Stand: 12.12.2022