Umsatzsteuer Newsletter 51/2022
EuGH: Umfang von Überprüfungen und Zurechnung der Kenntnis bei Steuerhinterziehung in einer Leistungskette
Immer wieder versagen die Finanzbehörden Steuerpflichtigen den Vorsteuerabzug, weil sie bei Ausübung der gebotenen Sorgfalt jedenfalls hätten wissen müssen, dass sie sich mit ihrem Umsatz an einer Steuerhinterziehung beteiligen. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang nun entschieden, dass Steuerpflichtige keine komplexen und umfassenden Überprüfungen hinsichtlich ihrer Geschäftspartner durchführen müssen, wie sie normalerweise nur von der Steuerverwaltung vorgenommen werden können (Urt. v. 01.12.2022 – C-512/21 – Aquila Part Prod Com). Gleichzeitig jedoch stellte der EuGH fest, dass der Steuerpflichtige sich die Kenntnis eines beauftragten Dritten von einer in der Umsatzkette vorliegenden Steuerhinterziehung zurechnen lassen muss.
1 Sachverhalt
Die Klägerin Aquila Part Prod Com handelte u. a. mit Lebensmitteln in der EU und innerhalb Ungarns. Sie hatte mit der Corpinvest Srl. einen Vertrag zur Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit in Ungarn geschlossen. Gesetzlicher Vertreter der Corpinvest Srl. war Herr KG. Im Rahmen der Tätigkeit des KG kaufte die Klägerin für einige Monate Speiseöl von der Rilax Kft. ein und verkaufte es an die Strongfood sro. weiter. Hieraus machte die Klägerin den Vorsteuerabzug geltend. 
 
Nach fünfjähriger Prüfung forderte die ungarische Finanzbehörde Vorsteuerbeträge zurück. Ihrer Auffassung nach war der geltend gemachte Vorsteuerabzug nicht zu gewähren, da die Klägerin mit den entsprechenden Umsätzen an einem Karussellbetrug beteiligt gewesen sei. Die Finanzbehörde nannte zahlreiche Anhaltspunkte, welche sie im Rahmen ihrer Prüfung ermittelt hatte und die für eine Beteiligung an der Steuerhinterziehung sprechen sollten, bzw. jedenfalls für ein Kennenmüssen der Steuerhinterziehung seitens der Klägerin. Außerdem führte sie an, dass der Geschäftsführer KG der Gesellschaft, die die Klägerin beauftragt hatte, bei den in Rede stehenden Umsätzen bei Ausübung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen müssen, dass er sich an einer Steuerhinterziehung beteiligte. 
 
Das vorlegende Gericht wollte nun (neben weiteren Fragen) zunächst wissen, ob ein Steuerpflichtiger zur Sicherung seines Vorsteuererstattungsanspruchs verpflichtet sein kann, solche Umstände zu prüfen, die auch die Steuerverwaltung im Rahmen einer fünfjährigen umfangreichen Prüfung nur mit behördlichen Mitteln hatte ermitteln können. Weiterhin wollte das Gericht wissen, ob es mit Unionsrecht vereinbar ist, dass die Kenntnis einer natürlichen Person (hier des KG), die in einem Rechtsverhältnis mit einer vom Steuerpflichtigen beauftragten selbständigen juristischen Person steht – ohne dass die natürliche Person (hier KG) in einem Rechtsverhältnis mit dem Steuerpflichtigen stünde –, ohne jegliche Prüfung dem Steuerpflichtigen zugerechnet wird. Das vorlegende Gericht fragte sich in diesem Zusammenhang, ob nicht vielmehr anhand des Auftragsvertrages und der hierfür maßgeblichen ausländischen Rechtsvorschriften zu prüfen sei, ob eine derartige Zurechnung erfolgen kann. 
 
2 Entscheidung des EuGH
Der EuGH erklärt zunächst – wie bereits mehrfach zuvor – ausdrücklich, dass von einem Steuerpflichtigen erhöhte Sorgfaltsmaßnahmen gefordert werden können, wenn es Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung bei seinem Umsatz und / oder seinem Lieferanten gibt. Das Vorliegen solcher Anhaltspunkte muss die Finanzbehörde nachweisen. Vermutungen genügen dem Beweiserfordernis laut EuGH insoweit nicht. Insbesondere reicht die Feststellung, dass der betroffene Umsatz Teil von Karussellgeschäften ist, allein nicht aus, um eine Beteiligung an einer Steuerhinterziehung oder die Kenntnis / das Kennenmüssen des Steuerpflichtigen von der Hinterziehung zu beweisen. 
 
Der EuGH weist nun in diesem Zusammenhang darauf hin, dass vom Steuerpflichtigen nicht verlangt werden kann, komplexe und umfassende Überprüfungen durchzuführen, wie sie normalerweise nur von der Steuerverwaltung vorgenommen werden können. Dies hatte der EuGH bislang noch nicht so deutlich ausgesprochen. Wie zu erwarten, hat der EuGH allerdings nicht weiter ausgeführt, was konkret vom Steuerpflichtigen erwartet werden kann und was nicht, sondern diesbezüglich auf die nationalen Gerichte und die Umstände des Einzelfalls verwiesen.
 
Zur Frage, ob die Kenntnis vom Bestehen einer Steuerhinterziehung im vorliegenden Fall dem Steuerpflichtigen zuzurechnen ist, stellt der EuGH recht kurz und bündig fest, dass sich ein Steuerpflichtiger nicht auf das Vorliegen eines Auftragsvertrages und die hierfür geltenden nationalen Vorschriften berufen könne. Er könne nicht geltend machen, dass er von der Betrugsbehaftung keine Kenntnis hatte, wenn sozusagen „auf seiner Seite“ (in Person des durch ihn Beauftragten) eine Kenntnis von der Betrugsbehaftung der Umsätze festgestellt worden ist. Laut dem EuGH würde eine solche Exkulpationsmöglichkeit dem Ziel der Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung zuwiderlaufen.
 
3 Auswirkungen für die Praxis
Das BMF hatte in sein Schreiben vom 15.06.2022 bereits aufgenommen, dass dem Unternehmer auch das Wissen oder Wissenmüssen seiner Angestellten in analoger Anwendung von § 166 BGB zuzurechnen sei. In der Regel hat jedoch ein Arbeitgeber gegenüber seinen Arbeitnehmern deutlich größere Auswahl-, Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten als ein Unternehmer hinsichtlich eines beauftragten Dritten. 
 
Aus der Aussage des EuGH zur Zurechnung der Kenntnis eines beauftragten Dritten können sich für Steuerpflichtige vielfältige Haftungsmöglichkeiten ergeben. Viele Unternehmen haben für etliche Teilbereiche im Einkaufs- oder Verkaufsprozess Dritte beauftragt. Wenn bei diesen eine Kenntnis nachweisbar ist, dürfen sich Steuerpflichtige nicht blind auf diese Dritten verlassen. Vielmehr müssen sie ihnen konkrete Vorgaben machen, welche Überprüfungen vorzunehmen und zu dokumentieren sind, wann zusätzliche Überprüfungsmaßnahmen nötig sind (und welche) und wann gegebenenfalls Umsätze überhaupt nicht getätigt werden dürfen. Vor diesem Hintergrund kann es je nach Branche und Umsatz auch notwendig sein, dass der Steuerpflichtige die Umsätze, die durch den Dritten angebahnt wurden, selbst auf Betrugsbehaftung überprüft. 
 
Es empfiehlt sich, entsprechende Prozesse einzurichten (ggf. im Rahmen des Tax Compliance Management Systems). 
 
Ansprechpartner:
 
 
Katrin Schwarz
Rechtsanwältin,
Fachanwältin für Steuerrecht,
Compliance Officer (Univ.)
Tel: +49 89 217501249
 
Stand: 09.12.2022